1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Alle Lebenskrisen haben das Potenzial, uns aus unserer Gewohnheit und unseren Gedankenmustern herauszureißen und uns in Kontakt mit Präsenz zu bringen. Obwohl wir diese Krisen oft als schmerzhaft erleben, erfahren wir doch eine Lebensintensität dabei, an die wir uns gerne immer wieder erinnern. Denn an was erinnern wir uns, wenn wir zurückschauen? An Momente der Intensität, sei es durch eine Liebesbegegnung, durch einen Verlust oder eine eindrückliche Reise. Wenn wir uns erinnern, schauen wir jedoch immer nur auf die Begleitumstände dieser Momente. Die Situation und die Umstände sind uns bewusst, aber nicht die Präsenz selbst.
Das führt oft dazu, dass wir versuchen, die Umstände zu wiederholen, um diese nährende Präsenz wieder zu erfahren. Wir planen wieder eine Reise ans Meer oder machen regelmäßig intensiv Sport. Im Extremfall entwickeln wir sogar eine Art Sucht nach der Situation, die uns Präsenz vermittelt hat und suchen sie immer und immer wieder auf. Wie wir wissen, ist dies keine Garantie dafür, dass wir Präsenz erneut erfahren, da letztlich nicht die Situation die Intensität erzeugt, sondern unser Geisteszustand in dieser Situation. Wir verwechseln Ursache und Wirkung.
Würden wir jedoch klar erkennen, dass die Intensität eine Frucht unseres Aufmerksamseins ist, hätten wir die Freiheit, in jedem Augenblick unseres Lebens größere Präsenz zu erfahren, indem wir uns auf das SEIN selbst ausrichten. Ob im Büro, in der Hängematte oder beim Sport, wir könnten uns an das SEIN erinnern und davon kosten, indem wir in ein ungerichtetes Lauschen eintauchen. Die Intensität von Präsenz, dieses intensive Lebendigsein, das wir so sehr lieben und das wir oft in der Alltagsroutine vermissen, könnte uns dann unabhängig von den aktuellen Lebensumständen von innen her nähren.
Reflektiere:
Welches waren Momente oder Phasen deines Lebens, in denen du am meisten Intensität erfahren hast?
Auf welche Weise suchst du nach Intensität in deinem Leben?
Welche äußeren Mittler (z. B. Sport, Reisen,…) zu Präsenz kennst du?
Erinnere dich an eine Situation von dichter Präsenz und erforsche die Präsenz selbst.
Sinn und Routine
Immer wieder beginnt die Lebensroutine die Kraft der Präsenz zu überdecken. Wir werden gleichsam eingelullt durch die Funktionalität des Alltags und das ewig kreisende Gedankenkarussell in unserem Kopf. Nichts kann uns die Frische und das Lebendigsein von Präsenz mehr verstellen als die alltäglichen Gewohnheiten unseres Lebens.
Dabei sind unsere Gewohnheiten nicht nur wichtig und hilfreich fürs Überleben, wir mögen sie auch. Sie vermitteln uns Halt und Sicherheit. Allerdings verleitet jede Gewohnheit dazu, weniger aufmerksam zu sein. Je automatischer wir agieren, desto reibungsloser läuft das Muster ab und wir benötigen nur noch wenig Aufmerksamkeit dafür. Das führt dazu, dass wir die Dinge, die uns ständig umgeben, kaum mehr wahrnehmen.
Gewohnheit frisst Aufmerksamkeit. Und so kann eine Phase unseres Lebens, in der alles glattläuft und unser Leben wie ein geruhsamer Fluss dahinfließt, sich zwar sehr angenehm und sicher anfühlen, aber mit der Zeit vermissen wir Lebensintensität und Sinn. Eine gähnende Öde und Sinnlosigkeit kann sich ausbreiten. Langeweile, Interesselosigkeit, Unzufriedenheit, Energielosigkeit, Wertlosigkeit und Schwermut sind typische Folgen eines längeren Mangels an Präsenz. Das alles sind Symptome einer unterschwelligen Sinnlosigkeit. Diese kann uns beschleichen, obwohl auf der Oberfläche unseres Lebens alles in Ordnung ist und wir vielleicht sogar äußerlich erfolgreich sind.
Der Grund dafür ist, dass das Gefühl von Sinn nicht davon abhängt, ob wir etwas Sinnvolles tun, sondern ob wir mit Lebensintensität – mit Präsenz – in Kontakt sind oder nicht. Fühlen wir dieses frische unmittelbare Lebendigsein, fragen wir uns nicht mehr nach dem Sinn des Lebens. Wir fühlen ihn, unmittelbar.
Doch wenn wir die Ursache unseres Mangels und unserer Sinnlosigkeit sowie den Zugang zu Präsenz nicht kennen, gehen wir im Außen auf die Suche nach der verlorengegangenen Intensität. Viele Menschen suchen dann zum Beispiel Abwechslung und Aufregung in Funparks oder Freizeitaktionen. Wir versuchen durch spektakuläre Aktionen unsere innere Langeweile zu überdecken. Vielleicht ist es symptomatisch für die funktionale westliche Welt, in der das Empfinden für wahren Sinn immer mehr verloren geht, dass im gleichen Maße unsere Unterhaltungsindustrie zu immer drastischeren Mitteln greifen muss, um uns immer wieder für kurze Zeit eine Lebensintensität zu vermitteln. Unsere Rummelplätze werden immer spektakulärer und unsere Filme und Videospiele immer dramatischer und brutaler. Es ist der Versuch, für Augenblicke eine künstlich hervorgerufene Intensität zu erzeugen, die uns über die gähnende Leere der Alltagsroutine hinwegtröstet.
Tatsächlich wird in diesen Momenten ein kurzes Aufbrechen unserer Routine erzeugt und wir spüren wieder Intensität, ohne uns aber der Präsenz bewusst zu sein. Wir sind viel zu sehr mit den spektakulären Erfahrungen, dem gewaltvollen Film oder dem Karussell beschäftigt, die diese Intensität vermitteln. So werden wir weiterhin auf die falsche Fährte gelockt. Wir suchen nach Intensität und Präsenz in der Dramatik von äußeren Erfahrungen und können die eigentliche Quelle für Sinn, die im schlichten Aufmerksamsein liegt, nicht entdecken.
Wie viel schlichter und doch lebendiger könnte doch unser Leben verlaufen, wenn wir Zugang zu Präsenz hätten. Menschen, die diese Intensität als innere Quelle kennen, fühlen sich nicht mehr so angezogen von spektakulären Ereignissen. Oft meiden sie diese sogar. Wer die Schlichtheit und Intensität von Präsenz kennt, fühlt sich eher abgelenkt und belastet durch laute äußere Sinnesreize.
Für diese Menschen sind die Routine und Gewohnheit des Lebens, welche sie von der Intensität trennt, kein wirkliches Problem. Im Gegenteil. Wer den direkten Zugang zu Präsenz kennt, kann die Dynamik der Gewohnheit sogar nutzen. Je stärker ein Handlungsablauf zur Gewohnheit geworden ist, desto weniger ist unser Aufmerksamsein durch das äußere Geschehen gebunden. Es ist damit frei, sich auf anderes zu richten. Das führt bei den meisten Menschen dazu, dass ihre Aufmerksamkeit ermüdet und sie gedankenverloren und gelangweilt sind. Wir könnten jedoch genauso diese Momente der Freiheit dazu nutzen, um tiefer ins Lauschen einzutauchen und uns in der Präsenz zu verankern.
Das ist wie beim Autofahren. In der Fahrschule sind wir noch völlig von den Handlungsabläufen – Kuppeln, Schalten, Lenken – vereinnahmt. Wir haben nur wenig Aufmerksamkeit zur Verfügung für die Situation auf der Straße, geschweige denn für anderes. Doch wenn die Handlungsabläufe beim Fahren zur Routine geworden sind, brauchen wir dafür nur noch einen kleinen Teil unserer Aufmerksamkeit. Dadurch können wir viel besser auf die Straße achten und gewinnen einen ganz anderen Überblick beim Fahren oder wir können nebenbei noch ein Gespräch führen. Eine neue Freiheit ist entstanden.
Routine gibt uns die Freiheit, uns mit Wesentlichem zu beschäftigen. Nur noch ein kleiner Teil unserer Aufmerksamkeit wird dann durch das jeweilige Geschehen beansprucht. Unsere Hauptaufmerksamkeit kann in der Präsenz verankert sein. Auf diese Weise kann die Routine unseres Lebens sogar einen Freiraum bieten, mitten im Alltag das SEIN zu kosten.
Experimentiere:
Experimentiere mit alltäglichen Routinehandlungen: Binde dich zuerst an Präsenz an und lass deine Hauptaufmerksamkeit während der ganzen Tätigkeit in der Präsenz verankert.
Das kreative Nichts
Präsenz ist erfüllend und gibt Sinn. Sie ist eine innere Kraftquelle, die immer sprudeln kann, wenn wir ihr Aufmerksamkeit schenken. Sie nährt uns einerseits, sie kann aber auch inspirieren und die Quelle für schöpferische Ideen und kreatives Handeln sein. Viele bedeutende Kunstwerke und Visionen sind aus Momenten von schlichter Präsenz hervorgegangen.
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