Um diesen Panzer aufzulösen, ist vielleicht der wichtigste Schritt das Zulassen. Zu lernen, Situationen und auch uns selbst erst mal sein lassen zu können. Dann können wir entspannen und loslassen. Die Situation kann so sein, wie sie ist, und wir können so sein, wie wir gerade sind. Es braucht keine Anstrengung und keine Kontrolle mehr, überhaupt kein Tun. In diesem Moment des Sich- Überlassens sind wir frei. Unsere Aufmerksamkeit ist nicht mehr gebunden und wir können uns wieder dem Lauschen hingeben, dem ungerichteten, absichtslosen Aufmerksamsein als Tor zur Präsenz.
Experimentiere:
Versuche in Situationen, in denen etwas für dich schwierig ist, nicht sofort zu handeln, sondern erst mal damit zu sein.
Sich mit dem Ego versöhnen
Je öfter wir aus den Vorstellungen des Egos aussteigen und die Dinge sein lassen und uns immer wieder ins SEIN hinein entspannen, desto mehr verliert der Panzer unseres Egos seine Starre und seine Macht über unser Leben. Präsenz transzendiert das Ego. Um sich dem SEIN zu öffnen, müssen wir alle Egoaktivität für einen Augenblick loslassen, und je häufiger das geschieht, desto mehr verschiebt sich das Zentrum unseres Lebens vom Tun zum SEIN, von der Kontrolle zum Vertrauen, von der Anstrengung zur Entspannung, von den Selbstbildern zur Natürlichkeit, von den Zielen zur Hingabe, von den Vorstellungen zur absichtslosen Offenheit.
Natürlich ist diese Transformation ins SEIN ein langer, oft lebenslanger Vorgang. Unsere Gewohnheit, uns mit Vorstellungen, Selbstbildern und Zielen zu identifizieren, ist tief verankert und wieder und wieder, oft unbewusst, werden diese Egomuster das Kommando übernehmen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die fortwährend die Vorstellungen des Egos unterstützt und bestätigt. Selbstwert wird zum Beispiel in unserer Kultur mit Prestigeobjekten und angesehenen Berufen verknüpft, also mit Haben und Darstellen, und nicht mit Natürlichkeit. Dadurch bekommt das Ego ständig neue Nahrung.
Das kann uns manchmal entmutigen. Doch auch wenn wir immer wieder in alte Gewohnheiten von Kontrolle und Vorstellungen zurückfallen, gewinnen wir doch zunehmend die Freiheit, diese Mechanismen zu erkennen und daraus auszusteigen, wenn sie aktiv sind. Wir entwickeln ein Bewusstsein davon, dass es ein Leben gibt jenseits unserer Alltagsidentifizierungen und dass wir unsere Wirklichkeitsperspektive wechseln können.
Manche Menschen betrachten diesen Vorgang, das Ego zu transformieren, als Kampf. Sie wollen das Ego besiegen. Sie denken vielleicht sogar, dass sie es schaffen können, in einer einzigen großen Schlacht das Ego auszurotten. Vielleicht durch einen langen Meditationskurs. Doch auch dieser Wunsch, das Ego mit seinen Mechanismen auszurotten, ist eine Kontrollvorstellung und kommt aus dem Ego. Dies führt zu Kampf und letztlich zu Frustration. Es ist das alte Missverständnis, dass wir das Übel ausrotten wollen, statt es zu integrieren und zu transformieren. Wir versuchen die Terroristen zu vernichten und geben ihnen dadurch Macht und säen den Boden für neuen Terrorismus. Wir bekämpfen Krieg mit Krieg und erzeugen noch mehr Leid und immer neue Konfliktfelder. Und genauso kämpfen wir gegen unsere Gewohnheitsmuster an und erzeugen doch nur neue Konflikte und Verdrängungsmuster damit.
Das Ego können wir nicht ausrotten, aber wir können immer wieder zu einer anderen Wirklichkeit erwachen. Zu einer Wirklichkeit des SEINS. Diese Wirklichkeit kann das Ego und unser In-der-Welt-Sein mehr und mehr durchwirken. Aus dieser Perspektive ist das Ego kein Feind, sondern eine sehr menschliche Lebensperspektive, in der wir versuchen, mithilfe von Vorstellungen und Kontrolle unser Leben zu meistern. Das ist eine natürliche, menschliche Eigenschaft und verdient Respekt, selbst wenn diese Lebenseinstellung uns und andere oft leiden lässt.
Vielleicht können wir eine liebevolle Beziehung auch zu dieser Seite unseres Lebens aufbauen, ähnlich dem liebevollen Gefühl, das entsteht, wenn wir ein kleines Kind beobachten, das im Spiel versucht, den Mond zu greifen. Ein liebevolles Lächeln kommt nicht aus Besserwisserei oder Überheblichkeit, sondern aus Verstehen, Respekt und Liebe. Wenn wir so unsere Egoseite betrachten, wie wir immer wieder von Vorstellungen und Kontrolle bestimmt sind, können wir uns auch mit dieser Seite versöhnen. Wir werden dann nicht darum kämpfen, das Ego zu überwinden, sondern es warmherzig beobachten. Leben ist dann ein fortwährendes Spiel, immer wieder die Perspektive zu wechseln, von der Lebensperspektive des Egos zum SEIN und wieder zurück.
Diese versöhnte Einstellung bringt Entspannung und Annahme mit sich. Wir müssen nichts ausgrenzen und nicht anders oder besser werden, und doch entwickelt sich eine zunehmende Bewusstheit, die innere Freiheit bringt. Das ist die Perspektive des SEINS, das nichts ausgrenzt und alles annimmt. Daher bringt die Versöhnung mit dem Ego eine innere Haltung mit sich, die in Übereinstimmung mit der Haltung des SEINS ist. Dies wird allmählich eine Umwandlung unserer Egostrukturen bewirken, und die Grundhaltungen des SEINS werden mehr und mehr unser Leben durchwirken.
Reflektiere:
Visualisiere dein Ego fantasievoll als innere Gestalt.
Welche Beziehung hast du zu dieser Person?
Was würde sich ändern, wenn du eine liebevolle, verständnisvolle Beziehung wie eine gute Mutter dazu aufbauen könntest?
1.4 Präsenz und ihre Wirkung
Präsenz ist eine Kraft. Die Kraft des SEINS. Obwohl diese Kraft nicht materiell ist und wir sie nicht anfassen oder sehen können, können wir sie doch unmittelbar erfahren. Sie kann eine große Wirkung in unserem Leben entfalten und auf andere Menschen spürbar einwirken.
Sind wir mit Präsenz in Kontakt, fühlen wir uns belebt und ganz wach. Wir sind auf eine natürliche und entspannte Weise aufmerksam und gegenwärtig. Doch Präsenz ist mehr als Gegenwärtigsein. Wir können vollkommen gegenwärtig einem Vogelgesang lauschen, ohne Präsenz zu erfahren. Plötzlich kann es jedoch geschehen, dass sich beim Lauschen auf den Vogel der Moment verdichtet und eine besondere Intensität des Augenblicks entsteht. Wir spüren das SEIN, unsere Existenz.
Die Intensität des SEINS
Präsenz ist verdichtetes SEIN. Die Erfahrung unserer Existenz. Sie ist eine Kraft, die intensiv und erfüllend gleichzeitig ist. Der Moment kann sich auf eine Weise verdichten, dass wir eine immaterielle Substanz spüren, die in uns oder um uns herum spürbar wird. Diese Substanz kann sich realer anfühlen als unser materieller Körper und doch ist sie keine Materie, sondern verdichtetes formloses SEIN.
Die meisten Menschen kennen diese Art von Erfahrung und lieben ihre Intensität, ohne sich allerdings dessen bewusst zu sein, was die Ursache dieser Kraft ist. Denn trotz ihrer Intensität und Dichte ist sie immateriell und subtil. Präsenz ist kein greifbares Objekt wie andere Erfahrungen und so bleibt sie oft unerkannt im Hintergrund unseres Erlebens.
Es gibt viele Beispiele dafür, wie Menschen Präsenz erfahren und diese Intensität immer wieder aufsuchen, ohne sich dessen bewusst zu sein, welche Kraft sie in diesen Momenten erfüllt. Ich denke zum Beispiel an Sportler. Durch die große körperliche Anstrengung kann man im Sport aus dem Denken aussteigen und es kann sich dadurch ein erfüllender Moment des SEINS ereignen. Hier eröffnet sich uns die Kraft der Präsenz. Meist denken wir aber, dass der Grund für diese Erfüllung der Sport ist. Sport ist hier aber nur das Gefährt, das Hilfsmittel, um mit Präsenz in Kontakt zu kommen. Die eigentliche Erfüllung ist die Intensität der Präsenz, die in diesen Momenten erfahren wird.
Wo wir diesen Vorgang der Verwechslung noch beobachten können, ist bei Kriegsveteranen. Wie oft erzählen alte Männer häufig mit leuchtenden Augen vom Krieg. Warum tun sie das? Weil diese Erfahrung so schön war? Bestimmt nicht. Krieg ist immer schrecklich und konfrontiert alle Menschen mit Angst und Schmerz. Gleichzeitig werden Menschen aber in Kriegszeiten aus der gewohnten Welt herausgerissen und erfahren eine Intensität, die sie danach in der Routine des Alltags oft vermissen. Diese Intensität entspringt der Kraft der Präsenz. Männer, die im Krieg waren, haben diese Intensität im Krieg erfahren, also sprechen sie gerne vom Krieg. Es waren die dichtesten Momente ihres Lebens.
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