Insofern ist das grundlegendste aller Bedürfnisse – unser Urbedürfnis – das Bedürfnis nach SEIN, und jeder Moment von Präsenz, in dem wir uns des SEINS bewusst sind, verbindet uns mit unseren Wurzeln und nährt uns. Gelingt es uns, das SEIN in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen, werden wir unabhängig von den äußeren Lebensumständen ein erfülltes und friedliches Leben führen.
Reflektiere:
Erinnere dich an intensive Momente von SEIN?
Was erfüllt dich in einem solchen Moment?
Wie erlebst du in diesen Momenten deine Bedürfnisse?
1.3 Präsenz im Alltag
Je tiefer wir begreifen, wie wesentlich das SEIN für unsere Erfüllung und unseren inneren Frieden ist, desto mehr werden wir unsere Sehnsucht und unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN ausrichten. Das gilt nicht nur für die Meditation, sondern ebenso für unseren Alltag, fürs Gemüseschälen, fürs Arbeiten, für das Gespräch mit einem Freund. Das bedeutet nicht, dass wir ständig in stiller Versenkung sind, was im Alltag gar nicht möglich und nicht angemessen wäre, sondern dass wir zuerst darauf achten, zu SEIN, bevor wir handeln oder sprechen. Unser Ausgangs- und Ankerpunkt ist die Präsenz – das bewusste SEIN.
Erst mal sein
Stellen wir uns vor, wir besuchen einen Freund und freuen uns darauf. Wir kommen in seiner Wohnung an und sofort reden wir aufgeregt aufeinander ein und teilen uns unsere Erlebnisse mit. Doch sind wir schon seelisch an diesem neuen Platz angekommen? Nehmen wir uns die Zeit, auch in der vertrauten Beziehung wieder neu anzukommen? Sind wir schon wirklich da? Wie anders würden doch der Kontakt und das Gespräch verlaufen, wenn wir uns die Zeit ließen, erst anzukommen.
Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass unser Leben immer aus Übergängen besteht. Nicht das Gleichbleibende ist das Natürliche, sondern der ewige Wandel der Situationen, auch wenn wir manchmal denken und hoffen, dass es andersherum ist. So wie die Jahreszeiten kommen und gehen, besteht auch unser Leben aus ständigen Übergängen. Nicht nur große Lebensabschnittsübergänge wie der Übertritt ins Berufsleben, Mutter oder Vater zu werden oder der Verlust einer Beziehung fordern von uns eine seelische Verdauungs- und Reifungsphase. Auch die vielen kleinen Übergänge des Tages, vom Frühstück in die Arbeitssituation und wieder zurück, vom Alleinsein zum In-Beziehung-Sein und zurück, erfordern ein ständiges seelisches Ankommen und sich neu Einstellen.
Reflektiere:
Betrachte einen einzigen Tagesablauf. Wie viele kleine und große Übergänge finden darin statt?
Wie viel Zeit zum Ankommen nimmst du dir bei den Übergängen?
Ankommen bedeutet, als Erstes zu spüren, wie wir uns gerade seelisch in einer neuen Situation fühlen und dieses innere Erleben bewusst zuzulassen. Wenn wir uns erlauben zu fühlen, dass wir zum Beispiel noch nicht da sind oder uns fremd fühlen, und diese Empfindungen ganz zulassen, werden wir mehr und mehr ankommen. Wir können dann mit dem, wie es ist, sein und darin ankommen. In dem Moment, in dem es uns möglich ist, wirklich da zu sein, können wir auch die Aufmerksamkeit auf das SEIN selbst richten und Präsenz erfahren.
Ist Präsenz erlebbar, sind wir da. Wir sind innerlich im Kontakt und ruhig. Ein inneres Erfülltsein breitet sich aus. Von diesem „Ort“ aus gestaltet sich die Beziehung zu einem Freund anders, entspannter und offener. Von hier aus haben wir die Freiheit, jenseits von Gewohnheiten und Vorstellungen zu schauen, welche Art von Kontakt zwischen uns und unserem Freund tatsächlich gerade wirkt und können dem augenblicklichen Beziehungspotenzial Ausdruck verleihen.
Das gilt für alle Beziehungen und alle Situationen. Können wir zuerst SEIN, entfaltet sich die jeweilige Situation natürlich. Eine besondere Art von Freiheit macht sich bemerkbar. Die Freiheit, dass sich die Situation oder die Beziehung auf ihre augenblickliche, natürliche Weise entfalten kann. SEIN ist unbedingt und frei von Vorstellungen und Vorlieben. Frei von Vergangenheit und Zukunft. Frei von allem. Kein Wunder, dass wir aus der Präsenz heraus uns anders beziehen können als aus unserem alltäglichen Verstand, der unbewusst durch Gewohnheiten, Vorstellungen und Vorlieben bestimmt ist.
Wenn ich Menschen einzeln begleite oder wenn ich Gruppen leite, nehme ich mir zuerst immer einen Moment des SEINS. Präsenz ist die Basis meiner Arbeit mit Menschen und macht sie leicht und wirkungsvoll. Als ich anfing als Therapeut zu arbeiten, hatte ich noch viele Vorstellungen darüber, wie eine Gruppe ablaufen muss, damit Heilung geschieht. In dieser Zeit war mein Beruf manchmal für mich und die Gruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer anstrengend. Doch heute sehe ich deutlich, dass der Grund für die Anstrengung meine therapeutische Vorstellung war, nichts weiter. Seit ich mich am SEIN orientiere und damit mich und alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein lasse, ist meine Arbeit anstrengungslos und intensiv gleichzeitig.
Experimentiere:
Nimm dir bewusst Zeit, bei Übergängen in eine neue Situation erst seelisch anzukommen.
Verweile, bis du SEIN kannst und die Präsenz spürst und handle erst dann.
Reflektiere anschließend, wie sich daraus die neue Situation oder der Kontakt entwickelt hat.
Etwas sein lassen
Präsenz ist der Ankerpunkt für ein spirituelles Leben. Wenn wir unser Leben aus dem SEIN heraus gestalten wollen, kommen wir nicht umhin, uns immer und immer wieder zu fragen, ob wir gerade aus der Präsenz heraus leben oder aus unserem Ego. Das Ego lebt aus vergangener Erfahrung, aus Gewohnheit und Vorstellung. Können wir in einer neuen Situation, in einer neuen Begegnung erst einmal sein und das SEIN spüren, bevor wir agieren? Können wir erst SEIN, bevor wir mit der Arbeit beginnen? Nehmen wir uns einen Moment von Präsenz, bevor wir ein schwieriges Beziehungsgespräch führen?
Es macht einen großen Unterschied, ob wir mit einer Situation sein können und das SEIN spüren und dann handeln, oder ob wir handeln, weil wir nicht damit sein können. Im einen Fall sind wir innerlich verankert und frei für das Potenzial des Augenblicks. Im anderen Fall sind wir lediglich Spielball der Situation und unserer unbewussten Abwehrreaktion darauf. Echte Entfaltung und kreatives Sich-Beziehen ist hier nicht möglich.
Die Herausforderung eines spirituellen Lebens besteht darin, immer wieder erst mal zu SEIN. In jeder neuen Situation, in jedem Kontakt sich zu erinnern, erst mal zu SEIN. Erst dann wird das SEIN zur Grundlage unseres Wirkens und nicht dadurch, dass wir einmal am Tag meditieren. Meditation ist hilfreich, uns an das SEIN zu erinnern und uns darin anzubinden, aber es darf zu keiner isolierten Praxis werden, sonst verliert es die wahre Bedeutung. So zeigt sich ein spirituelles Leben nicht daran, wie lange oder wie oft wir meditieren, sondern daran, wie sehr wir unser Leben aus dem SEIN heraus gestalten.
Experimentiere:
Versuche dich so oft wie möglich an das SEIN zu erinnern.
Schaff dir kleine Pausen zwischen zwei Tätigkeiten, um dich ans SEIN zu erinnern.
Schaff dir Erinnerungshilfen im Alltag: kleine Rituale, Ruhepunkte, Symbole fürs SEIN.
Das SEIN zu spüren und daraus zu leben ist nur möglich, wenn wir mit einer Situation sein können, sie also auch sein lassen können. Sind wir dagegen mit unserem Wollen und unseren Plänen und Wünschen verhaftet, wird Präsenz für uns nicht zugänglich sein. Das Festhalten an Plänen, Wünschen und Vorstellungen wirkt wie ein Panzer, der uns hart macht und abschottet nach außen und nach innen. Wir sind nicht mehr durchlässig. Nach außen wehren wir uns gegen die Welt, so wie sie ist, und wollen das Leben nach unseren Vorstellungen manipulieren. Unser Leben wird dadurch von Kontrolle und Anstrengung bestimmt anstatt von Vertrauen und Hingabe. Nach innen schneiden wir uns vom SEIN ab und haben damit keinen Zugang mehr zu der nährenden und inspirierenden Kraft, die aus dieser Quelle kommt.
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