So wie viele Individuen sich verzweifelt festklammern und mit Armen und Beinen rudern müssen, um nicht in den leeren Raum zu stürzen, so müssen sich die Räder unserer Wirtschaft buchstäblich bis zur Weißglut immer schneller drehen, nur damit unsere Gesellschaft sich über Wasser halten kann. Neue Produkte, neue Erfindungen, neue Technologien, neue Industrien und neue Märkte müssen ständig in diesen großen Schlund geworfen werden. Und die Frage, wie lange das, was bereits in die große Maschinerie Eingang gefunden hat, noch ausreichen wird, um uns vor dem Absturz zu bewahren, sitzt in den meisten Aufsichtsräten in einem eigenen Sessel mit am Tisch. Ständig herrscht da das Gefühl, dass wir eine neue Idee, einen neuen Dreh, vielleicht eine ganz neue Produktlinie brauchen, das nächste „große Ding“, sonst … Ja, genau, dieses „sonst“ ist der springende Punkt. Wenn nichts kommt, um uns zu retten, dann werden der Niedergang und der Verfall beginnen und die Stagnation wird allgegenwärtig sein. Es ist ganz wichtig, dass wir auch diesen Teil des Bildes sehen: In unseren Tagen meinen nicht nur die im Elend Lebenden, dass wir auf dem Weg in den Abgrund sind; viele Menschen aus den verwöhnten, privilegierten Eliten sind derselben Ansicht. Das ist eine Tatsache von entscheidender Bedeutung, denn sie zeigt, dass wir davon ausgehen können, dass nicht nur die Machtlosen auf eine große Veränderung hoffen, sondern dass auch viele derer, die nicht weit von den Hebeln der Macht entfernt sind, dieselbe Hoffnung hegen.
Es wäre ein Leichtes, weitere große Gesellschaftskreise aufzuführen und zu beschreiben, die sich ebenfalls in einem dem Abgrund entgegenrasenden Zug gefangen glauben. Einige sehen den kommenden Zusammenbruch vor allem im Bereich Gesundheit (eine Pandemie von Aids, exponentiell steigende Kosten), andere sprechen von einer „Ankunft des Anarchismus“ und verweisen auf den Brudermord auf dem Balkan, auf die Stammesfehden in Afrika oder auf die beherrschende Rolle, die das organisierte Verbrechen, die Mafia, in sehr vielen Ländern spielt. Wir alle könnten diese Liste fortführen, aber die für uns zentrale und entscheidende Frage ist eine andere, nämlich: Was ist passiert? Was war die Ursache oder welche waren die einzelnen, teils parallell laufenden Entwicklungen, die uns in diese Hilflosigkeit, Passivität, fassungslose Ratlosigkeit hineinmanövriert haben?
Unterstreicht nicht schon die längst nicht vollständige Aufzählung der angeführten Tatsachen, wie außerordentlich und beängstigend diese Lähmung ist? Macht nicht schon allein die schiere Menge der Menschen, die alle zusammen das Gefühl haben, in einer gigantischen Maschinerie gefangen zu sein, die Situation besonders dringlich? Wenn die Zahl all dieser Menschen zusammengenommen wirklich so immens ist, warum bringen wir dann nicht genügend Energie auf, um die Richtung zu ändern? Ist die riesige Zahl Menschen, die heute nicht nur in einer schweigenden , sondern in einer somnambulen, einer komatösen Opposition leben, nicht eine Beleidigung für den letzten Rest des uns verbliebenen gesunden Menschenverstands?
Diese Masse von Menschen eine „Mehrheit“ zu nennen wäre eine krasse Untertreibung. Um zu einer zutreffenden Einschätzung der Proportionen zu gelangen, müsste man die Fragestellung umkehren. Nicht: Wer teilt die Ansicht, dass unsere Kultur sich auf einem unheilvollen Kurs befindet? Sondern: Wo sind die Ausnahmen? Wer glaubt noch daran, dass wir als Gesamtzivilisation, dass dieses ganze moderne, weiße, industrielle Superunternehmen auf einem soliden und vielversprechenden Weg ist? Die Antwort lautet natürlich: Diese Zahl ist verschwindend gering. Damit wird die Dringlichkeit unserer Frage noch größer. Wenn man sich diese Situation, dieses enorme Missverhältnis vor Augen führt – warum verhält sich die große Masse der Menschen so, als stünden sie unter einem Bann, der sie in diesem gespenstischen Zug gefangen hält? Und das, obwohl wir wenigstens in einem nominellen Sinne noch daran glauben, in einer Demokratie zu leben? Warum fühlen wir uns so hilflos, so machtlos, so unentrinnbar gefangen, so gänzlich ausgeliefert? Was für eine Kette von Ereignissen hat uns in diese jämmerliche Situation gebracht? Was waren die Gründe für diese beängstigende Lähmung, diese seltsame und spezielle Impotenz?
Es gibt gute Gründe dafür, Gründe mit sehr tief reichenden und überaus starken Wurzeln. Ein Großteil dieser Gründe hat damit zu tun, dass wir in einem wirtschaftlichen System leben, das eine Dynamik besitzt, die uns mit unglaublicher Kraft in diese Richtung zieht . Und wir sind hilflos, weil es keine Alternative zu diesem ökonomischen Moloch zu geben scheint. Ja, wir sind so zutiefst davon überzeugt, dass es keine Alternative gibt, dass es unmöglich geworden ist, sich eine solche auch nur bildlich vorzustellen. Sosehr wir uns auch bemühen mögen, uns ein alternatives ökonomisches System wenigstens als Phantasie vor Augen zu führen, ein ökonomisches System, das mächtiger oder produktiver sein könnte als das, unter dem wir gegenwärtig leiden, es liegt außerhalb der Grenzen unserer Vorstellungskraft. Und deshalb sind wir vollkommen verwirrt und wie betäubt.
Es war einmal vor langer Zeit, da gab es eine ökonomische Alternative. Wir wissen von dem System, das die Hälfte unseres Globus umspannte. Aber wir wissen auch um das Schicksal dieser Alternative.
Der Tod des Sozialismus
Wie oft bei Todesfällen musste wohl auch nach dem Tod des Sozialismus eine gewisse Zeit verstreichen, bis wir die volle Realität dieses Vorgangs zu fassen vermögen. Fünfzehn Jahre waren nicht genug, denn er war einer der seltsamsten und unerhörtesten Todesfälle überhaupt und er ereignete sich absolut unerwartet und abrupt. Für Generationen war der Sozialismus die Hoffnung für die Menschheit gewesen! Die Hälfte der Menschheit hatte an ihn geglaubt, und Generationen hatten dafür gekämpft, gelitten und sich in Gefängnissen und Straflagern um seinetwillen foltern lassen. Und dann war er über Nacht einfach verschwunden. Er starb so „gründlich“, dass nicht einmal ein Leichnam zurückblieb, den man hätte beweinen können.
Der Sozialismus war eine detaillierte und kohärente Alternative gewesen. Er war nicht nur eine Säule hier, ein Torbogen dort; er war ein in sich stimmiges ausgefeiltes Bauwerk, das in gewissem Sinne vollständig war. Er hatte sich zu einer voll ausgestatteten Gegenwelt entwickelt, die in krassem Gegensatz zu der Welt stand, in der wir jetzt leben. Es gab in beiden Systemen kaum einen Strebebalken, einen Träger oder eine Säule, die man nicht hätte miteinander vergleichen können und zu denen man nicht sagen konnte: So und so vollzieht sich diese Transaktion in der Wirtschaft, die wir jetzt haben, und so und so sollte sie sich stattdessen vollziehen – in jener perfekteren Welt, um deren Verwirklichung wir ringen.
Dass etwas, das so detailliert und so umfassend war, etwas, das die Hälfte der Welt regiert hatte, sich praktisch über Nacht in Rauch auflösen könnte, wäre uns zuvor als gespenstischer, verrückter, völlig unwahrscheinlicher Alptraum vorgekommen. Und eigentlich hätte die halbe Welt danach jahrelang in Trauerkleidung gehen und Klagelieder singen müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Zahllose Menschen zuckten die Schultern, klopften sich den Staub von den Kleidern und machten weiter, als sei nichts Besonderes geschehen.
Wir haben nie innegehalten. Wir haben nie hinterhergeschaut. Wir haben nie tief darüber nachgedacht, was der Tod dieses Kolosses für uns für Konsequenzen haben könnte. Nicht einmal die offensichtlichste und nächstliegende dieser Konsequenzen haben wir uns klar gemacht. Hätten wir nicht vom ersten Tag an vorhersehen müssen, dass unser eigenes System, das plötzlich ohne Gegengewicht dastand, ohne jene Kraft, die es bisher in Zaum gehalten hatte, unausweichlich zum Extremen, zum Unausgeglichenen, zur Schieflage, zum Brutalen, zum Gefährlichen, zum Schrillen hin tendieren würde? Die Wirkung in den Rängen der Macht war offensichtlich enorm, aber das war nicht alles. Dieser Tod führte auch zu enormen Veränderungen in unserer politischen, intellektuellen und sogar spirituellen Welt. Man spricht oft von Verschiebungen im intellektuellen Spektrum, einer Bewegung von einigen Zentimetern. Aber dies war keine bloße Verschiebung – ein riesiger Teil unseres intellektuellen Bodens brach einfach weg, wie bei einem Erdbeben. Die fundamentale Polarität war verschwunden, sie war auf etwas unvergleichlich Kleineres zusammengeschrumpft: Wo es früher echte Streitpunkte und Debatten gegeben hatte, gab es jetzt nur noch kleinkariertes Gezänk und Haarspaltereien, ein müßiges Tauziehen um Schattierungen, um Nuancen.
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