1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Ist es nicht wahrhaft erstaunlich, dass wir überhaupt nicht reagiert haben, dass der Schock uns nicht schwindlig gemacht hat? Vielleicht hätte es ja geholfen, wenn es tatsächlich den Leichnam irgendeines Märchenriesen gegeben hätte, so groß, dass er die Hälfte der Ebenen der Ukraine bedeckt hätte. Doch alles, wozu es tatsächlich kam, war ein kaum hörbares unterdrücktes Schluchzen, und das trotz der Millionen echter menschlicher Leichen, trotz der zahllosen Leben, die in aufopferungsvoller Hoffnung lichterloh gebrannt und eine Energie abgestrahlt hatten, die der eines kleinen Sterns gleichkam. Dass wir uns einfach umgedreht haben und weitergegangen sind, ist ein denkwürdiges und in der Geschichte bisher nie da gewesenes Ereignis. Nero soll Kithara gespielt und gesungen haben, als Rom brannte. Wir haben nur sorgfältig die Haut von einer Salami abgezogen und uns dünne Scheiben aufs Brot gelegt.
Die andere Kultur
Dass wir uns ohne Alternative wiederfinden, ist einer der Hauptgründe für unser Gefühl, gefangen und wie gelähmt zu sein. Wir werden von einer gigantischen Maschinerie mitgerissen, die eine so unbeschreibliche Macht besitzt, dass es völlig aussichtslos erscheint, ihren Kurs ändern zu wollen. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das Gefühl, wie im Mittelalter an einen Pranger gekettet zu sein, ist jedoch verwunderlich, ja geradezu bizarr. Schließlich leben wir nicht in einer uniformen, homogenen, im Gleichschritt marschierenden Welt. Davon sind wir weit entfernt und können es also auch nicht als Entschuldigung anführen. Aber auch wenn es ganz offensichtlich keine ökonomische, keine systemische Alternative gibt, existieren seltsamerweise doch zwei ganz unterschiedliche, in vieler Hinsicht sogar gegensätzliche Kulturen.
Auf oberflächliche Weise ist sich natürlich fast jeder dessen bewusst, und die meisten Menschen könnten auch sehr verallgemeinert diese beiden Kulturen beschreiben. Zu den Klischees, die mit der Kultur der Angepassten, der Biedermänner, der Spießbürger verbunden werden, gehören der Nadelstreifenanzug der Männer und das klassische dunkelblaue Kostüm der Frauen mitsamt den dazu passenden Accessoires. Als Nächstes würde wahrscheinlich angeführt, dass diese „offizielle“ Kultur den global arbeitenden Großkonzernen Vorrang einräumt, diesen geradezu hörig ist und deshalb Wachstum nicht nur wünscht, sondern für eine absolute Notwendigkeit hält. Das wiederum bedeutet, dass sie sich für eine freie Marktwirtschaft mit einem guten Investitions- und Geschäftsklima stark macht, die wiederum niedrige Löhne verlangt und die Gewerkschaften am liebsten abgeschafft sähe. Dazu gehören natürlich eine bestimmte Sozialpolitik und gute Beziehungen zum militärisch-industriellen Komplex und zum Netzwerk internationaler Machtpolitik. Niemandem würde es schwerfallen, einige typische Vertreter dieser Kultur aufzuzählen. Bill Gates könnte ein Beispiel sein, George W. Bush ein anderes. Bush verkörpert diesen Typ mit einer solchen Perfektion, dass man ihm dafür beinahe dankbar sein müsste. Mit ihm als Maskottchen ist es bedeutend leichter geworden, diese offizielle Kultur auf einen Begriff zu bringen. Er ist schon beinahe so überzeichnet wie eine Karikatur: Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie er mit seinem beschränkten Wortschatz und dem einfältigen Gesicht auf dem Schoß eines Bauchredners sitzt – eines der großen multinationalen Konzerne.
Viele Menschen bringen die andere Kultur, ebenso in Klischees denkend, mit einer bestimmten Musik und gewissen Bands in Verbindung, mit einer völlig anderen Art, sich zu kleiden und zu ernähren, und sehr oft mit dem Gedankengut des spirituellen Aufbruchs und vielleicht auch des Buddhismus, ganz gewiss aber mit einer ungezwungeneren Einstellung zu Sex, mit einer starken Abneigung gegen Hierarchien und Autorität sowie einer Nähe zur legendären, oft missverstandenen 68er-Generation. Zu den Unterschieden zwischen beiden Kulturen gehören auch sehr gegensätzliche Einstellungen zur öffentlichen Ordnung, zu Disziplin, Monotonie und Langeweile sowie in großem Ausmaß auch zum sehr viel ernsteren Thema Krieg und Frieden.
Fast jeder würde wohl zugestehen, dass die zweite Kultur enorm viele verschiedene Gesichter hat. Dies wirft wiederum Licht auf eines ihrer interessantesten Charakteristika: Obwohl sie ganz außerordentlich bunt und vielfältig ist und keine gemeinsamen und verbindenden Insignien, Strukturen und Institutionen kennt, und obwohl es in ihr zahllose Formationen gibt, die sich um ganz unterschiedliche Themen scharen, erkennt man ihre Mitglieder doch auf den ersten Blick. Es spielt keine Rolle, ob man ihnen auf den Straßen von Peking oder Tokio, ob man ihnen in Nord- oder Südafrika, in Zentralasien oder in der Ukraine begegnet. Ganz gleich wo, die paradoxe Qualität, die augenblicklich identifizierbare Präsenz dieser anderen Kultur tritt überall klar zutage, auch wenn sie sich in ein Panoptikum verschiedener Gewänder kleidet und völlig unterschiedliche Sprachen spricht. Oft genügt eine einzige Reaktion, ein kurzer Blick, ein kleines Lächeln, und man weiß, auf welcher Seite der Wasserscheide zwischen den beiden Kulturen man sich gerade befindet.
Unnötig zu sagen, dass diese zweite Kultur eine immense Zahl von Mitgliedern hat. Es gibt wahrscheinlich kein einziges Land auf dieser Welt, in dem man nicht ihre Cafés und Kneipen findet, selbst auf dem Lande, und natürlich die Läden und Boutiquen, welche die Klientel dieser anderen Kultur ansprechen. Diese liefern sogar einen gewissen Maßstab. Und doch gibt es eine unbestreitbare Schwierigkeit. Wollte man heute versuchen, ihre Vertreter zu zählen, wäre das nicht nur äußerst schwierig, man müsste daran scheitern. Es sind zu viele geworden. Halb im Scherz könnte man behaupten, dass es eine angemessenere und praktikablere Prozedur wäre, wenn man fragte: Wer fühlt sich eigentlich in der offiziellen Kultur noch wirklich wohl? Wer fühlt sich darin zu Hause, wer identifiziert sich mit ihr, wer glaubt an sie und wer ist froh und glücklich in ihr? Wie schon im Falle unseres Hitchcock-Zuges sind es wohl eher wenige.
Ein Hinweis darauf, wie tief und breit der Graben zwischen diesen beiden Kulturen ist, ist die Häufigkeit, mit der die Kommunikation zwischen ihnen zusammenbricht. Dieses Unvermögen geht bis zur Sprachlosigkeit. Frustration und schließlich Kapitulation sind weit verbreitet, und der Satz, der Männern von Feministinnen gern entgegengebracht wird: „Du begreifst es einfach nicht“, trifft ebenso auf die Kommunikation zwischen diesen beiden Kulturen zu. Dass beide Seiten es einfach aufgeben, ist keineswegs nur eine Frage der Sprache. Nein, Worte werden sinnlos, weil man auf Grund gelaufen ist. Es gibt natürlich zahllose Meinungsverschiedenheiten über Tausende von oberflächlichen Themen und über Werte, aber am Schluss läuft alles auf zwei grundverschiedene Vorstellungen darüber, wie man leben soll und was der Sinn des Lebens ist, hinaus – und da gibt es dann nichts mehr zu sagen.
An der Oberfläche erscheint die andere Kultur ziemlich heterogen. Und in ihr gibt es wiederum Subkulturen, die oft um ein einziges Thema kreisen und einander nicht selten sogar befehden. Dennoch haben große Teile dieser anderen, zweiten Kultur Wurzeln, die sehr viel tiefer hinabreichen und die letztlich fest im Boden der Aufklärung wurzeln. Das bedeutet, dass nicht nur die „offizielle“ und öffentliche Kultur auf diesen Grundlagen fußt, sondern dass es tatsächlich zwei diametrale Sätze von Prämissen, zwei total unterschiedliche Weltanschauungen gibt, die beide in der Zeit der Aufklärung entwickelt wurden. Anders ausgedrückt, die Aufklärung hat einen Januskopf. (Diesen Gedanken habe ich in meinem Buch über die Freiheit, Die Freiheit leben , im Detail entwickelt.)
Da gab es einerseits die Tradition, auf der die uns vertrauten klassischen Dokumente der Demokratie beruhen und die wir alle aus dem Schulunterricht und dem täglichen Leben kennen. Das ist die Grundansicht, dass menschliche Wesen unentrinnbar von ihrem Eigeninteresse, ihrem Egoismus geleitet, ja kontrolliert werden und immer darauf schauen, was ihnen persönlich zum größten Vorteil gereichen könnte. Diese Aussage ist durch allzu häufigen Gebrauch glatt poliert worden, und so muss man sich erneut vor Augen führen, was sie ursprünglich besagen sollte. Wenn man sich an das berühmte Diktum von Thomas Hobbes erinnert, dass das Leben in seinem ursprünglichen Zustand „widerlich, brutal und kurz“ war, dann ist die sanfte Mittelklasse-Sprachregelung, die von „Eigeninteresse“ spricht, offensichtlich viel zu harmlos.
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