Starke Anforderung, Stress und Bedrohung passen nun durchaus gut zur Stellenbeschreibung dieses härtesten (und freudigsten) Jobs der Welt, dem Elternsein.
Das Bild des Dinosaurier-Modus kann uns helfen, so manche unserer Reaktionsweisen als Vater oder Mutter besser zu verstehen. Vor allem wenn wir nach einem Streit, nach einem Hineinrauschen in Genervtsein, Schimpfen und Strafen-Verhängen hinterher manchmal selbst verblüfft sind, was uns da geritten hat.
Und es gibt noch eine weitere wichtige Erkenntnis: Das Gehirn, dieses Oberzentrum, ist auch nur ein Organ unseres Körpers. Es regelt wichtige Funktionen und generiert die ganze Zeit Gedanken, so wie unsere Speicheldrüse uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt oder unser Magen Magensaft produziert, wenn wir eine leckere Speise essen.
Oft ist uns gar nicht bewusst, dass hier unentwegt „geistige Spucke“ läuft. Zudem vergessen wir manchmal, dass das nur Gedanken sind und nicht die Wirklichkeit.
Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir vollständig von unseren Gedanken überzeugt sind, uns aber Momente, Stunden oder Tage später wundern, was wir uns da eigentlich zusammengereimt haben. Wenn wir Pech haben, sind uns die Gedanken schon aus dem Mund gelaufen, und wir würden uns sehr wünschen, sie wieder zurückholen zu können.
Es ist beinahe eine Entzauberung dieses Organs: „Hey ja, dauernd sind da Gedanken, aber eigentlich sind es nur Gedanken, sonst nichts.“
Gedanken sind nur Gedanken, sind nur Gedanken. Glaube nicht alles, was du denkst!
Versuchen Sie mal 3 Minuten ruhig zu sitzen oder zu stehen und einfach zu atmen. Achten Sie nur auf die Bewegungen des Atmens in Ihrem Körper. Sie werden merken, dass Sie ganz schnell auch Gedanken wahrnehmen, vielleicht sogar einen ganzen Fluss an Gedanken. Wenn Sie aufgeregt sind, dann fließt er noch schneller .
In Übungen zur Achtsamkeit versuchen wir uns selbst und auch unser Denken wahrzunehmen. Bemerken, wie viele Gedanken da sind, wie sie ständig kommen und gehen. Wir versuchen uns dabei ein wenig neben den Fluss der Gedanken zu stellen, statt mittendrin zu sein.
Gerade wir Eltern sind ständig in Aktion und denken quasi doppelt, für uns und für die Kinder. Vor allem wenn wir im Stress sind und über viele Sorgen oder Befürchtungen nachdenken, kann es helfen, sich neben den Gedankenfluss zu stellen und zu beobachten, um nicht mit dem Gedankenfluss fortgespült zu werden.
Wir werden das in Kapitel 3 aufgreifen und Übungen dazu ausprobieren.
Kurz und knapp:
• Unser Gehirn ist älter als wir denken. Es hat sich über Millionen von Jahren entwickelt, angepasst, um zu überleben.
• Die Menschen mit den empfindlichsten Alarmanlagen im Gehirn haben überlebt und ihre Gene weitergegeben.
• Aus diesem Grund speichern wir heute noch kritische Ereignisse intensiver ab als positive. Das nennt man die Negativ-Tendenz des Gehirns. Deshalb berührt uns Kritik auch viel stärker als Lob.
• Wir haben fantastische Denkfunktionen entwickelt in unserem „neuen Hirn“ und verändern damit die Welt. Aber je stressiger es wird, desto mehr greifen wir auf unser „altes Hirn“ zurück und führen im Autopilot evolutionäre Überlebensprogramme gegen „Säbelzahntiger“ aus.
1.3 Der Chef sitzt oben, der Dino geht unten rum – Der obere und der untere Reaktionsweg des Gehirns
Nun wollen wir uns die uralten und die neuen Regulationsmechanismen unseres Gehirns noch etwas genauer anschauen.
Wenn wir ruhig und gelassen sind, können wir mit allen jüngeren Hirnabteilungen arbeiten, reif und überlegt handeln. Das Kommando wird dann im Gehirn von oben nach untenweitergegeben. Eine Vielzahl neurobiologischer Befunde zeigt aber, dass wir unter Druck oder Stress mit dem alten Dinosaurier-Gehirn arbeiten, sozusagen eine Abkürzung nehmen.
Das bezeichnet Daniel Siegel, US-amerikanischer Psychiater und Neurowissenschaftler, der sich auch mit Achtsamkeit und Erziehung beschäftigt hat, als den unteren Weg. Wir führen dann unbewusst und blitzschnell vor Urzeiten angelegte Notreaktionen aus.
Oben beim Chef
Wesentlich für den oberen Weg sind die Gehirnareale hinter der Stirn, vor allem die Regionen, die Neurowissenschaftler als Präfrontaler Cortex und Anteriorer Cingulärer Cortex bezeichnen. Wenn diese zwei Bereiche mitspielen dürfen, sitzt der reife Erwachsene als Chef am Steuer.
Wir haben dann eine Chance, uns vorher zu überlegen, was wir tun oder sagen wollen. Wir können unsere Gefühle und Emotionen regulieren. Der obere Weg hat also eine Bremse eingebaut, die es uns erlaubt, unsere Impulse noch einmal zu überprüfen.
Sich bewusst zu steuern, ist eine wichtige menschliche Eigenschaft, die während der Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen immer besser ausgebildet wird. Sie wird neurowissenschaftlich Exekutivfunktion genannt. Dabei hemmen die jüngeren Hirnareale den Überschuss der anderen, von oben nach unten.
Übrigens haben Kinder und Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) genau mit diesen Exekutivfunktionen Probleme. Bei ADHS sind die Mitarbeiter des Chefs in Gehirnabteilungen weiter hinten und unten quasi schwerhörig. Sie reagieren oft nicht auf die Anweisungen ihres Chefs. Die Konsequenz ist, dass Reize, innere Ideen und Impulse nicht so gut gefiltert und gehemmt werden.
Ein Ausspruch einer Erwachsenen mit ADHS verdeutlicht das: „Ich möchte endlich das sagen können, was ich wirklich meine, und nicht dauernd das aussprechen, was mir zuerst einfällt!“
→ Abb. 1.3 Der obere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.
Unsere Handlungen werden nicht nur von oben geplant, sondern auch vom Chef mit dem abgeglichen, was sich bislang für uns bewährt hat. Wir sind in der Lage, die Folgen unseres Tuns durchzuspielen und dementsprechend abzuwägen.
Wenn der Chef im Stirnhirn mitredet, ist das für uns als Eltern der entscheidende Heimvorteil in der Aktion mit unseren Kindern.
Wir haben schon einiges erlebt und Erfahrungen gesammelt. Wir können weiter voraus und um die Ecke schauen. Unser Chef im Hirn hält dann auch die ganzen schnellen und akuten Emotionen von unten aus dem alten Säugetier-Hirnanteil (Limbisches System) im Zaum. Er weiß, dass sich direktes Handeln aus Ärger, Wut oder Panik oft nicht wirklich lohnt. Er kann vorher beurteilen, was es kostet, aus dem ersten Affekt zu reagieren und was es kostet, nicht zu handeln. Es wäre schön, wenn unsere Kinder das alles auch schon könnten. Viele Alltagssituationen wären dann viel leichter miteinander zu bewältigen. Aber sie müssen diese Steuerung erst lernen und üben.
→ Abb. 1.4 Der untere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.
Wir merken allerdings, dass uns selbst als Erwachsene der Chef immer mal wieder abhanden kommt. Das sind meist Situationen, in denen wir ganz anders reagieren und handeln, als wir das mit etwas Abstand und Ruhe tun würden.
Gerade für uns Eltern gibt es im Hin und Her mit unseren Kindern immer wieder viele Gelegenheiten, die uns aufregen und in Stress bringen. Dann laufen wir Gefahr, dass falscher Alarm ausgelöst wird und wir auf den unteren Weg geraten.
Unten rum geht’s schneller
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