Genau darum geht es in diesem Buch: Diesen Drang zur Perfektion besser zu verstehen – und ihn loszulassen! Uns selbst mehr zu vertrauen und dabei Mitgefühl mit uns selbst und mit den anderen als Orientierung zu nutzen. Leben, und besonders Leben in Familien mit Kindern, ist bunt, vielfältig, dramatisch und innig, freud- und leidvoll, und es ist vor allem keinOptimierungsprozess.
Selten wird betont, dass wir Menschen mit Körper, Gehirn und damit auch Geist aus einem viele Millionen Jahre alten Evolutionsprozess ausgestattet sind.
Ein ganzer Teil der Nöte von uns modernen Eltern scheint zu entstehen, weil wir oft weiterhin mit einem Dinosauriergehirn auf eingebildete Säbelzahntiger im Kinderzimmer reagieren.
Wenn das Lesen und Erproben der Buchinhalte Ihnen ein wenig hilft, sich und Ihr Elterngehirn besser zu verstehen, auf Ihre Herzensgüte, Selbst-Mitgefühl, Mitfreude und eine Portion Gelassenheit zu vertrauen und sich selbst wie einen guten Freund zu behandeln – in guten wie in schwierigen Zeiten –, dann hat es sich gelohnt!
Das Buch ist als Reise aufgebaut mit Stationen, um Wissen aufzutanken, Selbsterforschung zu betreiben und konkrete Werkzeuge zur Anwendung im Elternalltag mitzunehmen.
Sie beginnt mit einer Darstellung der Grundlagen, wie unser Gehirn in Stress gerät und wie wir uns damit in einer dicht getakteten, modernen Lebenswelt zurechtfinden müssen, für die wir von Natur aus nur sehr eingeschränkt vorbereitet sind (Kapitel 1 und 2). Achtsamkeit und Mitgefühl, auch mit uns selbst, sowie Mitfreude und Gelassenheit werden als heilsame Haltungen vorgestellt (Kapitel 3) und konkrete Anwendungsmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Lebenslagen erarbeitet, immer wieder auch in Übungen (Kapitel 4).
Abgerundet wird die Reise durch Anregungen zur gezielten Kultivierung des Positiven, von Stärken und Ressourcen (Kapitel 5).
Wer diese Qualitäten vertiefen will, erhält hier (Kapitel 6) auch einen Fahrplan mit konkreten Übungen und Meditationen: Mindful Compassionate Parenting – MCPAR: Elternschaft mit Achtsamkeit und Selbstmitgefühl . Ergänzend werden Übungen und Meditationen als MP3 zum freien Download und der Videokurs EMAUS unter www.we-mind.lifeangeboten. Des Weiteren gibt es im Buch Anleitungen für Achtsamkeitsübungen in der Familie (Kapitel 7). Eine Reihe von mitfühlenden und liebevollen Briefen bietet abschließend Impulse zu speziellen Themen (Kapitel 8).
Die Theorien und Anregungen stammen nicht allein von mir, sondern von verschiedenen klugen Lehrern, Wissenschaftlern und Autoren. Ich persönlich greife auf 54 Jahre Selbsterfahrung als Kind meiner Eltern zurück. Dazu gesellen sich 25 Jahre kinder- und jugendpsychiatrische Begleitung von vielen Familien, zehn Jahre Üben in Achtsamkeit, Meditation und Selbstmitgefühl und die Erfahrung der heilsamen Auswirkung auf mich selbst und auf eine große Zahl von Menschen in meinen Kursen. Nicht zu vergessen: 28 Jahre intensiven Lernens in einer Langzeit-Liebesbeziehung und einer Familie mit Patchwork-Charakter, in der ich sowohl als Stiefvater als auch seit 23 Jahren als „Biovater“ gefordert bin. Ich hoffe, dass dies mein Beitrag dazu sein kann, dass wir Eltern uns selbst mehr trauen, uns mit all unserer Menschlichkeit, den Schokoladenseiten und den scheinbaren „Schwächen“ annehmen, um uns dann mit Mut, Mitgefühl und Gelassenheit in diese fordernde und wunderbare Begleitung unserer Kinder auf ihrem Lebensweg einbringen zu können.
Ansbach, den 29. August 2017
JÖRG MANGOLD
Kapitel Eins
Unser trickreiches Elternhirn
Und dann braucht man auch noch Zeit, um
einfach dazusitzen und vor sich hin zu gucken.
ASTRID LINDGREN
1.1 Warum wir als Eltern so ticken, wie wir ticken – vor allem wenn’s schnell gehen muss oder stressig ist
Wir starten diese Selbsterforschungsreise des Elternseins bei unserem Gehirn. Warum? Weil dort das „Zentrum der Macht“ sitzt. Jede unserer Wahrnehmungen – alles was wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten – wird dorthin gemeldet. Diese Sinnesreize werden mit Gefühlen und Gedanken verknüpft. Im Gehirn entstehen unsere Ideen und Vorstellungen über die Welt. Hier haben die Impulse für unser Handeln und unsere Reaktionen ihren Ursprung. Bei all dem können wir uns auch noch selbst beobachten. Wir können uns quasi beim Leben zuschauen und über dieses nachdenken. Weil wir wissen, dass wir wissen, haben wir uns Homo sapiens sapiens genannt.
Nicht umsonst gilt unser Gehirn als das komplexeste System, das wir im ganzen Universum kennen. Auf unserem Weg durch die Entwicklungsgeschichte des Gehirns werden wir lernen, warum wir als Eltern auch heute noch uralte Alarmsysteme in uns tragen und sie immer wieder aktivieren: „Achtung – es geht ums Überleben!“ und „Überall lauern Gefahren“. Wir entdecken, dass wir im Kinderzimmer oft fühlen und handeln, als wären wir in der Steinzeit und hätten es mit Säbelzahntigern zu tun. Wir lernen aber auch ein Beruhigungs- und Fürsorgesystem kennen, das wir als Gegenspieler zum Stress stärken können.
1.2 Das Gehirn hat eine Geschichte
→ Abb. 1.1 Dreieiniges Gehirn (engl. „triune brain“). Vgl. McLean, P. et al., A Triune Concept of the Brain and Behaviour. Toronto: University of Toronto Press, 1973.
Das Gehirn ist nicht über Nacht in unseren Kopf geraten. Seine Reifung hat auch nicht erst mit unserer Zeugung begonnen. Unsere Eltern haben uns zwar mit ihren Genen den Bauplan vererbt. Aber der Aufbau dieses Organs und grundlegende Schaltkreise haben sich in Millionen von Jahren der Evolution entwickelt.
Es lohnt sich also zu schauen, wo wir herkommen. Denn die Art und Weise, wie wir heute uns selbst, unsere Kinder und die Welt wahrnehmen, basiert ganz entscheidend darauf, wie sich dieses Organ im langen Lauf der Zeiten an seine Aufgaben angepasst hat.
Alte und neue Hirnanteile
Noch heute kann man die Entwicklungsstufen im Gehirn erkennen. Grundlegende Systeme bestehen schon seit der Zeit der Dinosaurier. Diese Hirnstrukturen sind bei uns und zum Beispiel Eidechsen noch immer ziemlich ähnlich aufgebaut. Nennen wir diese Anteile das „Dinosaurier-Gehirn“ . Es regelt überlebensnotwendige Funktionen wie Atmung, Schlaf, Durst, Hunger und Körpertemperatur, aber auch grundlegende Reaktionen auf angenehme und unangenehme Reize, auf Bedrohung und zudem die Sexualität. Hier können wir heute noch ticken wie ein Dino.
Eine große Veränderung durchlief das Gehirn, als Tiere anfingen, ihren Nachwuchs zu säugen. Das verlängerte die Brutpflege erheblich und bedurfte einer engen, fürsorglichen Bindung an den Nachwuchs. Bindung braucht Emotionen. Deshalb entwickelten sich besondere Strukturen im Gehirn. Sie ermöglichten es, Gefühle mit Erfahrungen zu verknüpfen und die neuen Eigenschaften zu speichern. In späteren Entwicklungsstufen der Säugetiere waren diese Areale auch beim Lernen sowie für Beziehungen und Gruppenbildung wichtig. Nennen wir sie zusammenfassend das „alte Säugetiergehirn“ . Wir haben zur Evolution ja meist martialische Begriffe wie Kampf und Auslese im Kopf. Es ist doch eine nette Randnotiz, dass Nähe, Versorgung und Fürsorge die Basis für diese so erfolgreiche Weiterentwicklung der Säugetiere und ihrer Gehirne bildeten.
Zuletzt kamen die Errungenschaften hinzu, die uns als Homo sapiens so einzigartig machen. Direkt hinter der Stirn sitzt die Kommandozentrale für die Denkfertigkeiten, die uns als Menschen besonders auszeichnen. Dort ist die Hirnmasse in der Menschwerdung am meisten gewachsen. Deswegen haben wir diese hohe aufrechte Stirn und nicht mehr die flachere Stirnform unserer Vorfahren, der Neandertaler.
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