Wie in der Abbildung zu sehen ist, sind die Systeme Alarm und Antrieb dem Stress zugeordnet. In beiden Funktionen werden Gehirn und Körper (Sympathikus) aktiviert. Wir sind hellwach und angespannt.
Warum das so ist und was dabei passiert, haben wir schon beim „unteren Weg“ kennengelernt. Wenn unser Alarmsystem (rot) aktiv ist, wird alles auf den Plan gerufen, was wir zum Kämpfen oder zum Fliehen benötigen: schnellerer Herzschlag, höherer Blutdruck, Muskelanspannung, schnelleres Atmen, Schwitzen.
Neu ist, dass wir uns in einen ähnlich erregten Zustand auch ohne Bedrohung bringen können. Das rührt zum einen von unserem Urantrieb her, Nahrung zu beschaffen. Es leuchtet ein, beim Jagen den Körper ganz ähnlich bereit zu machen, sowohl für die Anstrengung beim Laufen und Klettern als auch zum Kämpfen oder bei Misserfolg zum Fliehen. Dasselbe gilt für einen weiteren Urantrieb, die Fortpflanzung. Wir können also wach, voller Energie und maximal aktiviert sein, wenn wir ein Ziel verfolgen, etwas unbedingt erreichen wollen oder Sex haben.
Im Körper vermittelt das beide Male der gleiche Schenkel des sogenannten vegetativen Nervensystems, der Sympathikus. Über dessen Nervenleitungen und die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin wird für die schnelle, wache Aktion alles hochgeregelt. Begleitend werden weitere Hormone, insbesondere Stresshormone wie Kortisol, freigesetzt. Diese steuern dann eine zweite, etwas länger andauernde Welle an Körperreaktionen, die für Kampf, Flucht oder Jagd benötigt werden. Eine Folge ist etwa ein geringeres Schmerzempfinden. Zusätzlich verschwendet unser Körper keine Energie für Heilungs- oder Reparaturprozesse.
→ Abb. 1.5 Stressregulierende Systeme im Körper, Vgl. Van den Brink, E. und Koster F., Mitfühlend leben: Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken: Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München: Kösel-Verlag, 2013, sowie: Gilbert, Paul, Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen. Freiburg: Arbor Verlag, 2011.
Generell wird unser Körper durch den Sympathikus bis in die letzte Faser aktiviert. Er fährt alles herunter, was wir uns gerade nicht leisten können, etwa die Verdauung. Schließlich macht es keinen Sinn, auf der Jagd oder Flucht anzuhalten und zu pinkeln.
Nun müssen wir ja heutzutage selten wirklich kämpfen, fliehen oder unsere Nahrung jagen. Wir haben zu großen Teilen einen zivilisierten Umgang miteinander gefunden und kraftsparendere Wege, um an unsere Nahrung zu kommen. Dennoch greifen wir bei stressigen Anforderungen in der Arbeit oder innerhalb der Familie auf die gleichen alten Regelsysteme zurück.
Angst aktiviert das rote Alarmsystem, Ärger und Wut ebenfalls. Ursprünglich ging es ums Überleben. Heute reichen schon Befürchtungen oder Grübeln darüber, was Schlimmes passieren könnte. Der Zielzustand ist Sicherheit.
Etwas unbedingt haben zu wollen, Ziele erreichen zu wollen oder zu müssen, aktiviert unser blaues Antriebssystem. Ursprünglich ging es um Wasser, Nahrung und Fortpflanzung. In unserer Ist-Welt fällt heute darunter auch Leistung, Streben nach Besitz, Konsum, Erfolg, Wachstum, Weiterentwicklung, Neugier und Erforschen. Der Zielzustand ist die Sättigung.
Dass beide Systeme das Stressprogramm des gesamten Körpers anknipsen, können wir wahrnehmen. Unser Körper eignet sich deshalb bestens als Frühwarnsystem. Eines, das uns anzeigt, wie hoch wir denn gerade schon drehen oder welche Betriebstemperatur bereits erreicht ist. Das ist der Grund, warum achtsamkeitsbasierte Methoden so viel Wert auf Übungen zur Körperwahrnehmung legen.
Sind wir im Stress, verbrauchen wir ständig Energie. Auf Dauer muss dieser Zustand wieder beendet werden, sonst gehen wir ein. Fanden unsere Vorfahren keinen Ausweg aus dem roten beziehungsweise blauen Bereich, wurden sie gefressen oder verhungerten. Heute kennen wir zum Teil die Mechanismen dahinter. Wir verstehen, dass für chronische Stressreaktionen bis hin zum „Burn-out“ ein ständig aktiviertes Alarm- und Antriebssystem verantwortlich ist.
Stress kann also rot, blau oder beides sein.
Welche Farbe hat die Erholung?
Die beiden Aktivierungssysteme Rot und Blau brauchen einen Gegenspieler: das Fürsorgesystem. Das ist in der Abbildung im unteren Feld gründargestellt. Es steht für Erholung, wirkt sich beruhigend auf den Körper aus und wird durch den Parasympathikus beeinflusst.
Im grünen Fürsorgesystemsorgt dieser andere Schenkel des vegetativen Nervensystems dafür, dass Atmung und Herzschlag langsamer werden, die Muskeln sich entspannen. Die Durchblutung wird mehr auf die inneren Organe ausgerichtet, Nahrungsaufnahme und Verdauung werden angeregt. Unsere Energiespeicher, die wir für eine Aktion geleert haben, können nun wieder aufgefüllt werden.
Interessanterweise ist dieses System eher WIR-zentriert. Es geht weniger um MEIN Überleben, MEINE Sättigung oder MEINE Erholung. Im Laufe unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung als Säugetiere hat sich Beruhigung durch Nähe und Fürsorge von anderen als nützlich erwiesen. Das erleben wir schon im Bauch der Mutter und fortwährend ab der Geburt. Läuft unser Gehirn im grünen System sind wir voll auf Beziehung und Bindung mit anderen ausgerichtet. Wir empfinden Verbundenheit und Wohlgefühl.
Egal, welches Regulationssystem wir betrachten, keines ist besser oder schlechter als das andere. Wir benutzen sie alle drei und brauchen sie alle drei zum Überleben. Vielmehr geht es um das Gleichgewicht innerhalb des jeweiligen Systems und das ausbalancierte Zusammenspiel der Systeme untereinander. Wir können sehr gut in den Aktivierungsmodus der drei Systeme schalten. Die jüngsten menschlichen Anteile in unserem Gehirn spielen uns aber oft einen Trick.
Wie läuft das bei den anderen Säugetieren? Unsere Katze liegt beispielsweise häufig genüsslich in der Sonne; mit Haut und Haaren im grünen System. Ihr Ohrenspiel zeigt aber, dass die anderen Systeme nicht ganz abgeschaltet sind. Landet ein Vogel in der Nähe, fährt sie ruckzuck in Blau hoch und geht auf Pirsch. Wenn ein Hund vorbeikommt, schaltet sie ruckzuck auf Rot um, faucht und bringt sich in Sicherheit. Was sie allerdings viel besser kann als wir Menschen, ist wieder zurück ins grüne System zu gelangen, sobald Vogel oder Hund aus ihrem Umkreis verschwunden sind.
Das ist beneidenswert. Daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen. Öfter mal den Katze-liegt-in-der-Sonne-Modus anknipsen, wenn es eben geht – und nach Stress schneller wieder raus aus Rot und Blau. Das ist leichter gesagt als getan, weil wir noch eine weitere andere Hirnregion in uns tragen, die uns manchmal einen Streich spielt: das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk („default-mode-network“).
Das Ruhezustandsnetzwerk liegt recht zentral im Gehirn, in einem noch „jüngeren“ Areal. Untersuchungen zeigen hier eine hohe Aktivität, insbesondere, wenn wir in Ruhe sind und unseren Geist wandern lassen. Wissenschaftler vermuten, dass wir in diesem Netzwerk die Idee von uns selbst als Person entwickeln. Dabei können wir uns in die Vergangenheit und in die Zukunft „beamen“ und alle erlebten kritischen Situationen noch einmal analysieren beziehungsweise mögliche kritische Situationen durchspielen. Das bringt uns aus friedlichem Grün in Rot und Blau.
Wir haben also tatsächlich eine Hirnabteilung, die Probleme erfindet, um sie als eine Art geistige Aufgabe zu lösen, wenn wir in Ruhe sind. Nun scheint sich dieser Prozess in der Evolution bewährt zu haben. Gleichzeitig verdeutlicht er aber, dass bei der Entstehung des Gehirns ganz klar das Überleben des Menschen im Vordergrund stand und nicht etwa das Glücklichsein. Zur Ehrenrettung des Ruhezustandsnetzwerks muss ich allerdings anfügen, dass es eben auch für die genialen Geistesblitze zuständig ist, die uns zum Beispiel auf dem Klo ereilen und scheinbar aus dem Nichts in den Kopf fallen und etwas lösen, an dem wir schon lange geknobelt haben.
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