Versuchen Sie sich nun vorzustellen, dass Joe anders reagiert. Stellen Sie sich vor, er ist sich seines Gedankens „Gina denkt, ich bin inkompetent und rede Unsinn“ bewusst und erkennt, dass es bloß ein Gedanke ist. Er hält inne, um nachzudenken: „Ich frage mich, ob es einen anderen Grund für ihr Verhalten gibt. Sie wirkte interessiert und engagiert. Vielleicht ist irgendetwas passiert, wovon ich nichts weiß.“ Stellen Sie sich vor, wie anders Joes emotionale Reaktion ausfallen würde, wenn ihm bewusst wäre, was in seinem Kopf vor sich geht.
Mit Achtsamkeit üben wir uns darin, unsere mentalen und emotionalen Erfahrungen als vorübergehende geistige Zustände zu erkennen und zu akzeptieren, ohne darüber zu urteilen oder daran festzuhalten. Indem wir uns auf unsere Gedanken und Gefühle als temporäre Erfahrungen beziehen, anstatt zu glauben, dass wir das sind oder dass die Dinge so sind, verschaffen wir uns den nötigen Raum, um damit zu arbeiten. Es ist der Unterschied zwischen dem völligen Gefangensein in der Wut und der Beobachtung: „Ich bin im Moment wirklich wütend. Ich frage mich, was mir jetzt helfen könnte, meinen Gefühlszustand zu ändern.“
Das Akronym RAIN kann uns helfen, uns an den inneren Prozess zu erinnern, um den es bei der Achtsamkeit geht:
R – Registrieren: zur Kenntnis nehmen, was in uns vor sich geht.
A – Akzeptieren: unserer Erfahrung erlauben, zu sein, wie sie ist.
I – Inspizieren: genau anschauen, was sich in uns abspielt.
N – Nicht identifizieren: durch das Beobachten unserer Erfahrung, ohne eins mit ihr zu werden. 2
Achtsamkeit ermöglicht ein akzeptierendes, urteilsfreies Gewahrsein unserer Gedanken und Gefühle, sodass wir sie nicht notwendigerweise glauben müssen. Dadurch beginnen wir allmählich, anders über unsere Gefühle zu denken und zu sprechen, indem wir beispielsweise sagen: „Ich fühle Wut“ anstatt „Ich binwütend.“ Die erste Aussage erkennt Wut als eine Erfahrung innerhalb unseres umfassenderen Gewahrseins an, mit der wir arbeiten und die wir verändern können. Die zweite Aussage spiegelt Identifikation wider: Wir fühlen uns eins mit der Emotion und sehen keine Möglichkeit, damit zu arbeiten.
Achtsamkeit hilft uns, Mitgefühl zu entwickeln, denn je mehr wir unserer sich ständig verändernden Gedanken und emotionalen Zustände gewahr sind, desto besser können wir mit den schwierigen arbeiten und jene inneren Erfahrungen kultivieren, die wir haben möchten (wie Mitgefühl!). Wir können auch beschließen, Mitgefühl in unser achtsames Gewahrsein hineinzubringen. Auf diese Weise praktizieren wir gleichzeitig Achtsamkeit und Selbstmitgefühl: „Ich fühle mich jetzt ängstlich (wütend, eifersüchtig, traurig). Wie kann ich mir in diesem Leiden selbst helfen und damit arbeiten?“
Eine bekannte Methode, sich in Achtsamkeit zu üben, ist die achtsame Beobachtung des Atems, die gerne zu Beginn angewandt wird. Dazu setzen wir uns aufrecht hin und lenken unsere Aufmerksamkeit sanft und freundlich auf den Atem. Wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, weil sich Gedanken oder Ablenkungen einblenden, nehmen wir diese wahr, akzeptieren sie und bringen unsere Aufmerksamkeit sanft zum Atem zurück. Es gibt keinen Grund, frustriert zu sein, wenn wir feststellen, dass wir von unseren Gedanken fortgetragen wurden. Es ist ganz natürlich, dass Ablenkungen auftauchen, und es gelingt uns mit der Zeit immer besser, mit der Aufmerksamkeit da zu bleiben . Tatsächlich helfen uns diese Ablenkungen, uns darin zu üben, bestimmte Vorgänge in unserem Geist wahrzunehmen – beispielsweise, wenn Gedanken oder Gefühle auftauchen –, sodass wir dann mit diesen Erfahrungen arbeiten können. Im Laufe der Zeit werden wir diese Gedanken schneller wahrnehmen, akzeptieren, loslassen und unser achtsames Gewahrsein wieder zum Atem zurückbringen. Indem wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf den Atem lenken, wollen wir unsere Gedanken oder Gefühle nicht unterdrücken oder ignorieren, sondern lernen, sie wahrzunehmen und ein wenig inneren Raum zu schaffen, damit wir nicht automatisch in unproduktive Gedankenschleifen hineingezogen werden, die uns leiden lassen. Es gibt viele gute Bücher und Informationsquellen zum Erlernen von Achtsamkeit. (Eine Reihe von Empfehlungen finden Sie im Abschnitt „Literatur“ am Ende des Buches. Auf www.compassionatemind.net finden Sie geführte Meditationen mit Übungen zum achtsamen Atmen.)
BETRACHTUNG
Achtsames Nach-Innen-Schauen
Die folgende Übung wird Ihnen helfen, dessen gewahr zu sein, was Sie in jedem Moment erleben, und zu lernen, auftauchende Gedanken und Gefühle bewusst wahrzunehmen, zu unterscheiden und zu akzeptieren. Versuchen Sie ein paar Mal am Tag innezuhalten, um Ihr inneres Erleben wahrzunehmen und zu beobachten, wie sich dies auf Ihr Leben auswirkt.
Beginnen Sie, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Atem lenken und bewusst die Empfindungen beim Ein- und Ausströmen des Atems wahrnehmen. Machen Sie das etwa 30 Sekunden lang. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit nun auf die durch äußere Eindrücke hervorgerufenen körperlichen Empfindungen: Nehmen Sie die Geräusche und Bilder wahr, die Ihre Sinne aufnehmen. Nehmen Sie auch andere körperliche Empfindungen wahr, beispielsweise die Temperatur, den Druck an den Stellen, an denen Ihr Körper in Kontakt mit dem Boden, Ihrer Sitzgelegenheit und so weiter ist.
• Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit jetzt auf Ihre inneren Körperempfindungen, den Herzschlag, die Atmung, Spannungen im Körper, Hunger oder ein Gefühl der Sättigung, Schmerzen oder Unwohlsein, innere Temperatur.
• Achten Sie auch auf Ihr mentales Erleben; nehmen Sie wahr, was Sie denken, beispielsweise: „Das ist sonderbar.“ „Was ist jetzt?“ „Ich glaube nicht, dass das funktioniert.“
• Nehmen Sie Ihre emotionalen Zustände wahr: Interesse? Irritation? Erwartung? Langeweile? Angst? Nehmen Sie wahr, wie der Inhalt Ihrer Gedanken Ihren Gefühlszustand beeinflussen kann.
• Machen Sie sich nun Ihre Motivation (was Sie tun wollen) und Ihre Vorstellungen (innere Bilder oder Fantasien) bewusst.
Werden Sie sich dieser Erfahrungen bewusst, nehmen Sie Ihre Gedanken, Gefühle, Motive und inneren Bilder als vorübergehende geistige Zustände zur Kenntnis und akzeptieren Sie sie als solche. Durch diesen Prozess der „Innenschau“ werden wir immer besser darin, diese mentalen, emotionalen und körperlichen Erfahrungen als das zu erkennen, was sie sind – temporäre Erfahrungen und Ereignisse –, anstatt sich von ihnen davontragen zu lassen. Wir werden auch lernen, wahrzunehmen, wie eine mentale Erfahrung zur nächsten führen kann, wie eine Reihe von Dominosteinen, die nacheinander umfallen.
10 Mitfühlendes Verstehen von Emotionen
Schauen Sie sich manchmal in der Welt um und fragen sich, warum wir Menschen solche verrückten, törichten Dinge tun? Vielleicht blicken Sie auch hin und wieder auf Ihr eigenes Leben zurück und erinnern sich an Entscheidungen, die Sie einst getroffen haben und bei denen Ihnen, wenn Sie heute daran denken, die Haare zu Berge stehen. So als könnten Sie fast nicht glauben, dass Sie es waren, der so gehandelt hat. Manchmal versuchen wir, uns diese Dinge zu erklären, indem wir sie mit bestimmten Etiketten versehen: „Er hat keinen Weitblick!“, „Ich habe keine Selbstkontrolle“, „Diese Leute sind Idioten!“ Um allerdings Mitgefühl entwickeln zu können, braucht es ein Klima des Nicht-Urteilens, der Akzeptanz und Freundlichkeit.
Zu verstehen, wie unsere Emotionen funktionieren, ist eine große Hilfe. Rufen Sie sich ein Gefühl ins Gedächtnis, das Sie kürzlich hatten – vielleicht ein herausforderndes wie Wut oder Angst. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie erkennen, dass dieses Gefühl auf vielfältige Weise auf Ihren Geist einwirken kann. Emotionen richten unseren Geist aus, indem sie viele Aspekte unserer inneren Erfahrung beeinflussen:
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