1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Weiterhin bedeutet Mitgefühl nicht, dass wir uns zum „Fußabtreter“ machen, auf dem andere herumtrampeln können, oder dass wir uns ausnutzen lassen. Mitgefühl hat nichts mit fehlgeleiteter Vergebung zu tun wie im Falle von häuslicher Gewalt: „Es ist wieder gut, Liebling. Du hast mich gestern und vorgestern Abend geschlagen. Ich habe Mitgefühl mit dir und vergebe dir. Du kannst mich wieder schlagen, wenn du willst.“ Das ist kein Mitgefühl, das ist Dummheit, die weder anderen noch uns selbst hilft. Wenn wir oder unsere Kinder in Gefahr sind, sollten wir die Situation unmittelbar verlassen und nicht zurückkehren, bis die andere Person die Hilfe erhalten hat, die sie braucht, damit die Gewalt ein Ende hat und die Situation sicher ist. Obwohl wir unser Mitgefühl für Menschen, die von negativen Emotionen überwältigt werden, aufrechterhalten, erlauben wir ihnen nicht, uns zu verletzen oder zu schaden. Das ist nicht nur für unsere eigene Sicherheit wichtig, sondern hilft auch ihnen, denn sie werden aufgrund ihres gewalttätigen Verhaltens viele Probleme bekommen.
Mitgefühl kann tatsächlich ein Handeln erforderlich machen, das der anderen Person überhaupt nicht gefällt. Mit echtem Mitgefühl könnten wir sogar gezwungen sein, eine Beziehung zu jemandem aufs Spiel zu setzen, der uns am Herzen liegt, um dieser Person weiterzuhelfen. Einmal erzählte mir ein Mann, dass er als Jugendlicher sehr über die Stränge geschlagen hatte und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Jedes Mal war seine Mutter zum Gericht gegangen und hatte dafür gesorgt, dass er wieder auf freien Fuß kam. Und dann fing er wieder an zu stehlen, zu trinken oder Drogen zu verkaufen. Doch eines Tages schaute die Mutter den Jugendrichter an und sagte: „Mein Sohn ist außer Kontrolle geraten. Behalten Sie ihn hier.“ Dann verließ sie das Gericht. Der Junge war bestürzt und saß eine Weile im Gefängnis. Anfangs war er ziemlich verstört, aber es führte dazu, dass er über sein Verhalten nachdachte und die Gutherzigkeit seiner Mutter nicht mehr als selbstverständlich betrachtete. Er begann, sein Verhalten zu ändern.
Mitgefühl gibt uns auch das Selbstvertrauen, „Nein“ zu sagen, wenn wir mit dem manipulierenden Verhalten einer Person konfrontiert werden. Ihren Ansinnen und Intrigen nachzugeben hilft auf lange Sicht weder ihr noch uns. Auch wenn der andere wütend wird, zweifeln wir nicht an unserer Entscheidung, wenn wir wissen, dass das, was wir tun, das Richtige ist und einer mitfühlenden Absicht entspringt.
Mitgefühl ist ein Geschenk, das wir anderen großzügig machen. Eine Gegenleistung dafür zu erwarten, und sei es nur ein Dankeschön, kann zur Enttäuschung führen. Selbst wenn uns jemand dankt, profitiert die Person, die den Dank ausspricht, am meisten, nicht die, die ihn empfängt. Die Person, die sich bedankt, fühlt sich glücklich, weil sie ihre Wertschätzung für die ihr entgegengebrachte Güte zeigt und ihre Bereitschaft, sie zu erwidern. Wenn uns jemand nicht dankt, muss das weder unsere Freude noch unser Mitgefühl schmälern. Mit anderen Worten, wir beziehen unsere Freude aus dem Akt des Gebens, nicht daraus, dass jemand Dankbarkeit zeigt für das, was wir getan haben. Wir empfinden Zufriedenheit, weil wir in Übereinstimmung mit unseren Werten gehandelt haben. Uns begegnen im Laufe unseres Lebens vielleicht viele Situationen, in denen unser Mitgefühl ganz natürlich geweckt wird. Berührt von dem Leid, das wir beobachtet haben, sind wir vielleicht motiviert, auf eine hilfreiche Weise zu handeln. In solchen Situationen ist es wichtig, ehrlich einzuschätzen, was wir tun können – und was nicht. Dann können wir effektiv den Beitrag leisten, der uns möglich ist, ohne zu versuchen, Lasten zu schultern, die wir nicht tragen können oder die nicht die unseren sind. Wenn wir beispielsweise beobachten, wie ein Kollege mit einer ihm übertragenen Aufgabe zu kämpfen hat, geraten wir vielleicht in Versuchung, sie für ihn zu übernehmen, selbst wenn wir wissen, dass es seine Verantwortung ist und wir mit unserer eigenen Arbeit genug zu tun haben. Es könnte dann besser sein, ihm einfach freundlich zuzuhören und vielleicht ein paar ermutigende Worte zu sagen. Wenn wir uns aus einem Gefühl der Verpflichtung oder einem Schuldgefühl dazu zwingen, mehr zu tun, entsteht unterschwelliger Groll und das nimmt dem Geben die Freude. Schuld und Mitgefühl sind unvereinbar. Mitgefühl muss aus einer inneren Freiheit kommen, dann ist es am besten für uns und andere.
Manchmal ist unser Mitgefühl größer als das, was wir – oder irgend jemand anders – in der betreffenden Situation tun können. So haben wir nach dem Erdbeben auf Haiti 2010 vielleicht tiefes Mitgefühl für die Menschen empfunden, die ihr Zuhause verloren hatten oder verletzt wurden. Doch als Einzelperson sind wir nicht in der Lage, etwas gegen eine Tragödie solchen Ausmaßes zu tun. Wir müssen stattdessen tun, was wir können – beispielsweise eine Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation überweisen. Um unser Mitgefühl auch dann aufrechtzuerhalten, wenn wir keine praktische Hilfe geben können, können wir die „Geben-und-Nehmen-Meditation“ üben, die in Beitrag 30 beschrieben wird.
BETRACHTUNG
Die Verwirrung in Bezug auf Mitgefühl beseitigen
Denken Sie an eine Zeit zurück, in der Sie eine falsche Vorstellung von Mitgefühl hatten: Als Sie beispielsweise dachten, Mitgefühl bedeute, es anderen recht zu machen oder jemandem aus einer Verpflichtung oder einem Schuldgefühl heraus zu helfen. Wie hätten Sie Ihre Haltung in echtes Mitgefühl umwandeln können? Stellen Sie sich vor, dass Sie das tun. Stellen Sie sich dann vor, aus echtem Mitgefühl heraus zu handeln.
8 Eine andere Art von Stärke
Obwohl das Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl manchmal herausfordernd und unbequem sein kann, lohnt es sich . Mitgefühl hilft uns, unsere Werte zu leben, anderen Menschen zu helfen, Probleme in unseren Gemeinden zu lösen und zu einer besseren Welt beizutragen. Wenn wir mit Mitgefühl auf Herausforderungen antworten, können wir unsere innere Einstellung ändern und positiv auf die Situationen und Menschen einwirken, die uns begegnen; wir können anderen und uns selbst Unterstützung geben, wenn wir mit Dingen konfrontiert werden, die wir nicht ändern können.
Je öfter wir Mitgefühl praktizieren, desto einfacher wird es. Wir entdecken, dass wir dazu fähig sind . Wir stellen fest, dass wir mit all den beängstigenden Gedanken, die wir in unserem Geist erzeugt haben, sowie mit den Gefühlen, von denen wir glaubten, sie seien ganz und gar unerträglich, umgehen können. Wenn wir uns den Dingen, die uns ängstigen, immer wieder mutig stellen, hören sie auf, so beängstigend zu sein.
Psychologen nennen dies Habituation . Es bedeutet, dass ein Gewöhnungseffekt eintritt, wenn wir uns immer wieder den Dingen aussetzen, die uns ängstigen, und dann nichts Schreckliches passiert. Unsere Angst lässt dann im Lauf der Zeit allmählich nach. Wie Shantideva in The Way of the Bodhisattva schrieb: „Es gibt nichts, das nicht durch Vertrautheit leichter wird.“ 1
Wenn wir mit Menschen zusammen sind, die trauern, Angst haben oder wütend sind, und ihnen gegenüber eine mitfühlende Haltung einnehmen, beginnen wir zu verstehen, dass wir intensive Gefühle anderer aushalten können, ohne darauf reagieren oder etwas in Ordnung bringen oder flüchten zu müssen. Wenn wir mit Menschen in Kontakt kommen, deren Herkunft oder Hintergrund, Manieren, Glaubensvorstellungen oder Lebensweise uns anfangs abstoßen, verstehen wir allmählich, dass auch sie wertvolle Menschen sind, die genau wie wir Hoffnungen und Träume haben und genau wie wir einfach glücklich sein und nicht leiden wollen.
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