Seit Jahrzehnten arbeiten westliche Therapeuten mit achtsamkeitsbasierten Therapieansätzen, die auf traditionelle buddhistische Praktiken zurückgehen, um ihren Patienten zu helfen, mit problematischen Gefühlen und Gedanken umgehen zu lernen. Immer mehr wissenschaftliche Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das regelmäßige Praktizieren der Achtsamkeitsmeditation sogar das Wachstum in Gehirnregionen anregen kann, die mit der Regulierung von Emotionen, dem Gefühl von Identität, Mitgefühl und Empathie assoziiert werden 1. Es gibt eine Reihe ausgezeichneter Bücher und anderes Material über Achtsamkeit, falls Sie mehr darüber erfahren möchten. Wir werden nun kurz erläutern, auf welche Weise erhöhte Achtsamkeit uns dabei helfen kann, unser Potenzial zum Mitgefühl zu entfalten. Was genau ist eigentlich mit Achtsamkeit gemeint? In psychologischen Kreisen definieren wir Achtsamkeit allgemein als bewusstes, nicht urteilendes Gewahrsein dessen, was in unserem Inneren und um uns herum im gegenwärtigen Moment vor sich geht. Mit achtsamem Gewahrsein halten wir weder an unseren Erfahrungen fest noch lehnen wir sie ab, wir nehmen sie einfach zur Kenntnis und akzeptieren sie, wie sie sind. Wir können beispielsweise mit einem Familienmitglied über ein heikles Thema sprechen und wahrnehmen, wie unsere Stimme lauter wird und eine gewisse Schärfe bekommt. Dann wird uns bewusst, dass das von einem empfundenen Gefühl der Bedrohung herrührt und dass wir in die Defensive gehen und wütend werden. Achtsames Gewahrsein versetzt uns dann in die Lage, kluge Entscheidungen zu treffen – beispielsweise innezuhalten, „uns abzuregen“ und zu denken, bevor wir sprechen. Wenn wir belastende Gefühle und Gedanken nicht als solche wahrnehmen und nicht erkennen, dass es vorübergehende geistige Zustände sind, können wir leicht von ihnen fortgetragen werden.
Hier ein paar Beispiele: Ich (Russell) habe sowohl viel mit Eltern gearbeitet, die bei der Erziehung ihrer herausfordernden Kinder an ihre Grenzen stießen, als auch mit Erwachsenen, die schreckliche Kindheitserfahrungen mit ihren Eltern gemacht hatten. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der ein Kind etwas tut, das uns wirklich sehr aufregt. Nehmen wir an, mein Sohn regt sich über irgendetwas auf und stößt aus Versehen gegen meine Lieblingsgitarre, die von ihrem Ständer rutscht und auf die steinerne Kamineinfassung knallt, sodass sie einen tiefen Kratzer abbekommt. In der Hitze des Gefechts, in der rasch Wut hochkommt, könnte es leicht passieren, dass wir gedankenlos Dinge sagen, die unserem geliebten Sohn großen Schmerz bereiten, Dinge, die wir niemals sagen würden, wenn wir in einer ausgeglichenen Stimmung wären: „Warum kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst? Bist du blöd? Ich kann nie etwas Schönes haben, ohne dass du es kaputtmachst! Geh‘ mir aus den Augen!“ Solche Kommentare können dauerhaften Schaden anrichten, besonders, wenn sie im Laufe vieler Jahre ständig oder häufig wiederholt werden.
Achtsames Gewahrsein kann uns helfen, bewusst wahrzunehmen, wenn wir von intensiven Gefühlen überwältigt werden, sodass wir unser Handeln in bessere Bahnen lenken können: „Oh je … ich bin wirklich wütend im Moment. Alles, was ich zu ihm sage, während ich mich so fühle, wird wahrscheinlich verletzend sein, also bin ich jetzt besser erst einmal still.“ Indem man dadurch eine gewisse Distanz zu dem intensiven Gefühl hergestellt hat, tun sich eine ganze Menge andere Optionen auf: Ich kann anfangen, tief und langsam zu atmen, kann mir ins Gedächtnis rufen, dass es ein Versehen war, kann mir sagen, dass es nur eine Gitarre ist und dass ich, wenn mir soviel daran liegt, dass sie nicht beschädigt wird, besser daran täte, sie in ihrer Hülle aufzubewahren und nicht auf einen instabilen Ständer neben den Kamin zu stellen, wo alle ständig vorbeilaufen! Wenn ich mich dann beruhigt habe, könnte mir sogar bewusst werden, dass dies eine wertvolle Lektion war – eine Chance, meinem Sohn zu zeigen, dass man mit stressigen Situationen auf eine ruhige, ausgeglichene Weise umgehen kann, anstatt Gift und Galle zu speien – so, wie ich gerne hätte, dass er als Erwachsener mit solchen Situationen umgeht. Im Laufe der Zeit kann er durch solche Interaktionen lernen, selbst auf konstruktive Art und Weise mit frustrierenden Situationen umzugehen.
Da wir gerade beim Thema Erziehung sind, sollte ich vielleicht noch anmerken, dass man Achtsamkeit auch auf andere Gefühle wie Angst und innere Unruhe anwenden kann. Zur Kunst der guten Erziehung gehört auch die Fähigkeit, ein gewisses Maß an Angst und Unbehagen auszuhalten, wenn unsere Kinder flügge werden und anfangen, die Welt auf eigene Faust zu erkunden. Das findet während ihrer gesamten Entwicklung statt – von dem Moment an, in dem sie laufen lernen und anfangen, unabhängig auf Spielplätzen herumzuspringen und zu spielen (herumrennen und unweigerlich hinfallen), bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie anfangen auszugehen, sich um Jobs zu bewerben und schließlich das Haus verlassen. In jedem Fall erfordert gute Elternschaft, dass wir ein Gleichgewicht herstellen können, das heißt, unseren Kindern soviel Unterstützung geben, wie sie brauchen, und gleichzeitig die Freiheit, zu lernen, herausfordernde oder schwierige Lebenssituationen selbst zu meistern. Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Angstgefühle oder unser Kontrollbedürfnis zu beobachten und zu akzeptieren, können wir leicht überbehütend und kontrollierend werden, um sicherzugehen, dass unsere Kinder nie etwas Leidvolles erleben. Doch dadurch lähmen wir sie.
Werden wir von solchen Emotionen überwältigt, könnte es sein, dass wir eine noch weniger hilfreiche Strategie verfolgen: dass wir unsere Kinder ignorieren oder uns gar völlig von ihnen zurückziehen, weil wir es nicht aushalten, mit anzusehen, wie sie sich abstrampeln. Achtsames Gewahrsein hilft uns, unsere eigenen Gefühle zu beobachten, zu akzeptieren und Verantwortung für sie zu übernehmen, damit wir mit ihnen arbeiten können, anstatt uns von ihnen unser Handeln diktieren zu lassen: „Natürlich ist es schwer, mit anzusehen, dass meine Tochter das durchmacht (und „das“ könnte alles sein, vom Sturz von einem Klettergerüst auf dem Spielplatz bis hin zu einer schmerzhaften Trennung), aber so lernt sie, solche Situationen selbst zu bewältigen. Was könnte mir helfen, meine eigenen Gefühle in den Griff zu bekommen, sodass ich für meine Tochter da sein kann, wenn sie mich braucht, aber ihr dennoch genügend Raum geben kann, sich als Individuum weiterzuentwickeln?“
Um auf das Thema belastende Emotionen und Gedanken zurückzukommen: Wir betrachten das, was wir denken, oft als absolute Wahrheit, sind überzeugt, dass „die Dinge so sind“, und reagieren dann, wenig überraschend, ziemlich heftig darauf. Unsere Gefühle sind sehr machtvoll, aber sie sind oft nicht besonders schlau – sie können nicht gut unterscheiden zwischen dem, was uns in der Außenwelt widerfährt, und den Gedanken und Bildern, die wir in unserem Geist produzieren.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Joe hält einen Vortrag und Gina, einer Frau in der ersten Reihe, fällt plötzlich ein, dass sie vergessen hat, einen Scheck einzureichen, der einige Abbuchungen decken soll, die übers Wochenende fällig werden. Die Bank schließt in zwanzig Minuten, also steht Gina abrupt auf – verärgert über sich selbst, weil sie es vergessen hat – und verlässt den Raum. Stellen Sie sich weiter vor, Joe bemerkt das und interpretiert ihr Verhalten auf eine selbstkritische Weise: „Sie denkt sicher, dass ich inkompetent bin und Unsinn rede.“ Er empfindet wahrscheinlich dieselben Gefühle, die er gehabt hätte, hätte Gina dies tatsächlich zu ihm gesagt: Scham, Anspannung, ein Gefühl der Peinlichkeit und vielleicht Feindseligkeit gegenüber Gina. Aber wir wissen natürlich, dass die Situation überhaupt nichts mit Joe zu tun hatte, er interpretierte ihr Handeln völlig falsch. Wir reagieren normalerweise sehr empfindlich auf wahrgenommene Bedrohungen, was dazu führen kann, dass wir Ereignisse irrtümlicherweise auf die denkbar schlimmste Art interpretieren und damit intensive emotionale Reaktionen auf mentale Vorgänge auslösen – auf Gedanken, Vorstellungen, Fantasien –, die kaum etwas mit dem zu tun haben, was tatsächlich vor sich geht.
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