Aus behavioristischer Sicht setzt sich eine psychische Störung aus Sucht- und Vermeidungsstrategien zusammen, die nur durch Strafe und Belohnung in der gewünschten Richtung beeinflußt werden können. Aus psychoanalytischer Sicht ist eine psychische Störung das Ergebnis von Verteidigungsstrategien, die sich zwangsläufig in der Psychotherapie als Widerstände manifestieren. Angesichts solcher Formulierungen besteht die Rolle des Psychotherapeuten nicht bloß darin, bestimmte Techniken anzuwenden, sondern darin, den Patienten dazu zu bringen, selbst mit diesen Techniken zu arbeiten – gegen seine eigenen inneren Widerstände.
Die Strategien des einzelnen, den therapeutischen Absichten entgegenzuwirken, sind jedoch weitaus subtiler als eine bloße Nichtanwendung. So kann er sich beispielsweise in dem Glauben befinden, daß er frei assoziiert, seine gegenwärtigen Gefühle ausdrückt und ganz er selbst ist, obgleich er in Wirklichkeit etwas ganz anderes tut oder – noch subtiler – rein mechanisch und gefühllos auf die Indikationen reagiert und den Schritten der gegebenen Technik folgt. Wenn dies geschieht, dann tut er nur scheinbar etwas, und es ist kaum verwunderlich, daß er nichts erreicht.
Ein erfahrener Psychotherapeut ist in erster Linie jemand, der zum wirklichen Tun verhelfen kann, jenseits aller oberflächlichen Handlungen, die, wenn sie nicht von der richtigen Haltung getragen werden, nicht mehr sind als ein leeres Ritual. Er ist imstande, die richtige Haltung zu identifizieren, zu verstärken, herauszufordern und zu lehren, weil er sie bei sich selbst kennengelernt hat. Jedes Buch kann eine Technik beschreiben, aber eine innere Haltung kann nur von einer Person vermittelt werden.
Die zentrale Rolle der adäquaten inneren Haltung kann nicht nur im Bereich der Psychotherapie beobachtet werden, sondern in jeder psychologischen Übung oder spirituellen Disziplin. Wenn wir das Herz einer Technik suchen, werden wir mit Sicherheit Anleitungen finden, die über eine Verhaltensbeschreibung hinausgehen, schwierig zu vermitteln sind, selbst durch persönliche Supervision, und häufig als unerklärbar beschrieben werden. Es könnte beispielsweise notwendig sein, daß ein Mensch, der sich einer bestimmten Praxis widmet, eine Haltung der „Offenheit“ einnimmt, daß er „losläßt“, empfänglich, hingebungsvoll, gelassen, vertrauensvoll, gläubig, voller Sehnsucht und so weiter wird. Selbst in einer Praxis, die dem aktiven Tun so abhold ist wie die Zen-Meditation, versucht der Meditationslehrer zu vermitteln, wie die Technik in die Praxis umgesetzt werden muß, um wirksam zu sein. Obwohl die äußeren Aspekte des Nicht-Handelns klar sein mögen, „umfaßt das bloße Sitzen alle Koans“, wie Shunryo Suzuki feststellte.
Um nicht nur ein Vorführer von Techniken zu sein, sondern jemand, der sich auch darum kümmert, daß sie ihre Funktion erfüllen können, muß der Therapeut, ebenso wie der spirituelle Lehrer einer bestimmten Tradition, ein Experte für das Wie der Techniken sein. Man könnte ihn mit dem Uhrmacher vergleichen, der eine beträchtliche Summe für einen Fausthieb auf eine kaputte Uhr berechnet. „Soviel Geld für einen Schlag auf die Uhr?“, wäre die natürliche Reaktion des Kunden, obwohl er zugeben müßte, daß die Uhr nun einwandfrei funktionierte. „Keineswegs. Der Schlag hat nur zehn Pfennige gekostet, der Rest ist für das „Gewußt Wo“ wäre die Antwort. Ein Großteil der ausführlichen Literatur über psychotherapeutische Systeme befaßt sich mit den Techniken, und dennoch geht es – ebenso wie in der Geschichte mit dem Uhrmacher – nicht eigentlich um die Techniken. Techniken, so könnte man sagen, sind – sowohl für den Patienten als auch für den Therapeuten – eine Gelegenheit zum Ausdruck der inneren Haltung, welche die wirkliche Arbeit ausmacht. Sie bestehen aus einer Reihe von Handlungen, die in einem bestimmten Geist vollführt werden müssen, und der Therapeut ist derjenige, der diesen Geist bis zu einem gewissen Grad repräsentiert. Sein Wissen, was zu tun ist und wie man sich zu verhalten hat, beruht nicht in erster Linie auf komplizierten Formeln, sondern auf einem umfassenden Verständnis dafür, wie es um den Patienten bestellt ist – ein Verständnis, das er nicht unbedingt in Worten ausdrücken können muß. Darüber hinaus braucht sein implizites Verständnis – das er durch Lebenserfahrung und Ausbildung entwickelt hat – nicht unbedingt an sein theoretisches Niveau geknüpft zu sein.
Die Gestalttherapie ist unter den großen Schulen der Psychotherapie einzigartig wegen des Ausmaßes, zu dem dieses System auf intuitivem Verständnis, statt auf Theorie beruht. Das heißt jedoch nicht, daß die Intuition für die kreative Arbeit von Freud, Jung oder anderen nicht wichtig war. Wahrscheinlich beruht jedes wirksame System zu einem gewissen Grad auf persönlichen Erkenntnissen. Ebensowenig bedeutet es, daß die Intuition nicht auch Bestandteil des psychotherapeutischen Prozesses im allgemeinen ist. Die Einzigartigkeit der Gestalttherapie liegt jedoch in der Tatsache, daß die direkte Verwurzelung der Praxis in der Intuition und in einem lebendigen Verständnis niemals durch eine Grundlage theoretischer Voraussetzungen ersetzt wurde. Ideen sind sicherlich Teil des Systems, doch sind Ideen die Blüten und nicht die Wurzeln. Darüber hinaus besteht das Wesen dieser Ideen im allgemeinen aus einer Erläuterung der Einstellungen, statt auf theoretischen Konstrukten. Es sind Ideen, die auf Erfahrung beruhen, statt auf Spekulation, und nicht zur Unterstützung der therapeutischen Aktivität dienen, sondern zu dieser eine alternative Ausdrucksform bilden.
Perls vertrat die Auffassung, daß ein Psychotherapeut ganz er selbst zu sein hat und daß umgekehrt jeder Mensch, der ganz er selbst ist, zu einem gewissen Grad über therapeutische Fähigkeiten verfügt. Er entwickelte und verwendete Techniken (ebenso wie man Stifte zum Schreiben und Besteck zum Essen verwendet), aber warnte uns vor „Requisiten“ – Prozessen, die in der Erwartung angewendet werden, daß sie etwas ausrichten, während wir uns zurücklehnen und untätig sein können. In seinem Denken gab es keine Trennung zwischen seinem Leben und seiner Arbeit. Das, was er „lehrte“, wenn er Psychotherapeuten „ausbildete“, bestand im wesentlich darin, daß er sie dazu brachte, sie selbst zu sein. Er vertraute darauf, daß das Sein ansteckend war und daß das für das intrinsische Erlernen der Psychotherapie ausreichend sei. Zu sein bedeutete für ihn, hier und jetzt zu sein, geistesgegenwärtig und verantwortungsvoll – das heißt, hinter all seinen Handlungen und Gefühlen zu stehen.
Diese drei Dinge – die Präsenz, das Gewahrsein und die Verantwortung – stellen den Kern der Grundhaltung der Gestalttherapie dar. Obwohl dies äußerlich drei völlig verschiedene Einstellungen sind, sind es doch nur Aspekte oder Facetten eines einzigen Seinsmodus in der Welt. Verantwortlich zu sein, das heißt, angemessen auf die aktuelle Situation antworten zu können, und beinhaltet, daß man präsent ist, hier und jetzt. Und wirklich präsent zu sein heißt, sich der Gegenwart gewahr zu sein. Gewahrsein wiederum ist auch Präsenz – Realität –, unvereinbar mit der Illusion der Unverantwortlichkeit, durch die wir unserem Leben aus dem Wege gehen. Es ist das Wissen, daß wir in Illusionen leben, ganz gleich, was wir auch denken mögen.
Die Philosophie der Gestalttherapie
Die grundlegende Haltung des Aufgeschlossenseins für die gegenwärtige Realität, des Gewahrseins und der Verantwortung wird in einer Reihe spezifischer Haltungen deutlich, die Gestalttherapeuten in ihrer Ausbildung erlernen und in ihrer Arbeit weitergeben, ohne jedoch andere missionieren zu wollen. Diese spezifischen Haltungen können als die natürlichen Folgen der Aufgeschlossenheit, des Gewahrseins und der Verantwortung gesehen werden. Ich bin der Meinung, daß diese Haltungen zusammen mit ihrer dreifachen Grundlage die eigentliche Tradition der Gestalttherapie bilden, während die Techniken nur die praktischen Mittel zum Ausdruck und zur Weitergabe ihres Verständnisses sind. Um einige Beispiele zu nennen:
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