1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 9 Samyutta Nikâya (=SN) 56.11, zitiert nach Schumann, a. a. O., S. 25
10 Majjhima Nikâya (=MN) 141.17, zitiert nach der deutschen Übersetzung von Karl Eugen Neumann; Verlag Beyerlein/ Steinschulte, Herrnschrot (Die Reden des Buddha. Mittlere Sammlung)
11 Dîgha Nikâya (=DN) 22.18
12 AN 6.63; Nyânatiloka: Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung (Anguttara-Nikâya), Bd. III, S. 242 (Aurum Verlag, Braunschweig 1993)
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Die Zweite Edle Wahrheit
Zwischenmenschlicher Hunger
Festhalten am Hunger verursacht Leiden
Wenn die Welt die Sinne berührt, entsteht schlagartig ein Selbst, und Verlangen kommt auf: Hunger nach Angenehmem, Sicherheit und nach dem Leben selbst. Das Selbst greift nach diesen Dingen und hält sie krampfhaft fest, wenn es sie bekommt. Wir halten an unseren Versuchen fest, zu bekommen, was wir wollen, und wir halten auch fest an der Angst vor dem Verlust dessen, was wir haben. Die Anspannung, die in diesem Greifenwollen steckt, ist die Wurzel des Leidens. Als Kinder lernen wir, welche zwischenmenschlichen Kontakte angenehm und unangenehm sind, und auch welche Sinneseindrücke angenehm und unangenehm sind. Wir entwickeln Vorlieben und Abneigungen. Wir entdecken, dass Wollen und Nichtwollen reziprok sind: Das Ende des Angenehmen ist unangenehm; das Ende des Unangenehmen ist angenehm. Die Brust der Mutter ist ein offensichtliches Beispiel – sie ist warm und süß, erfreulich; wird sie weggenommen, ist das eine unangenehme Erfahrung. Aber das ist noch nicht das Ende. Danach kommt der Hunger nach ihrer Rückkehr, nicht bloß der Nahrung wegen, sondern auch als Objekt des Trostes, des Glücks; grundlegender biologischer Hunger wandelt sich zu seelischem Hunger. Beide stellen „Ich“ in den Mittelpunkt des Universums. Es geht uns gut, wenn jemand lächelt oder uns lobt; unser Hunger nach derlei Aufmerksamkeit, die uns während unseres ganzen Lebens gewidmet und entzogen wird, bildet viele Nuancen. Worte der Kritik oder Ablehnung erleben wir als schmerzhaft; es wird wichtig, solche Kontakte zu meiden. Aus solchen konditionierten Hungergefühlen erwachsen unsere subtilsten Sehnsüchte nach Vertrautheit, Angenommen-Werden und Gemeinschaft. Klar benennbare, aber auch namenlose Sehnsüchte wirken in unserem Leben; wir können nur einen Bruchteil von ihnen kennen.
Zwischenmenschlicher Schmerz und zwischenmenschliche Freude sind eindringliche Konditionierungen. Als Kind wurde ich gelobt, wenn ich meine Suppe aufaß; ich lernte, für ein Lob zu funktionieren, auch wenn ich satt war, weil ich nach dem Lächeln und den Worten hungrig war, die ich die Male vorher genossen hatte. Die Kinder um mich herum wollten gelobt werden dafür, dass sie den Ball weit geschlagen hatten, am schönsten angezogen oder gut in der Schule waren. Aber wir sind alle verschieden. Die Sehnsucht meines Vaters richtete sich nicht auf öffentliche Anerkennung, sondern auf private Liebe. Lange nachdem meine Mutter gestorben war, hungerte er immer noch nach Zweisamkeit, die ihm eine uralte Einsamkeit, die in seinem Leben immer wieder auftrat, zumindest zeitweilig etwas erleichtern sollte. Die Ursprünge seines Hungers waren jedoch unter den Schichten von nahezu einem Jahrhundert gelebten Lebens begraben. Die Hungergefühle meiner Familie, wie alle unsere Hungergefühle, bildeten ein Selbst, das sich im Zusammenfluss von Sinneseindrücken, angenehmen und unangenehmen Gefühlen und konditionierten emotionalen Gewohnheiten bildete.
Das Bindeglied zwischen Hunger und Leiden heißt Greifenwollen. Wenn wir nicht bekommen können, was wir wollen, bleibt die Anspannung des unbefriedigten Hungers bestehen. Wir klammern uns an die Bilder und Gefühle, die mit dem, was wir suchen, zusammenhängen. Wir lechzen nach Kaffee und haben ein Bild im Kopf: Wir sehen, halten sogar die Kaffeetasse, riechen das Aroma und sehnen uns nach den Gefühlen, die mit dieser idealisierten Befriedigung zusammenhängen. Solange wir an diesem Bild und dem Habenwollen, das darin steckt, festhalten, bleiben wir unbefriedigt. Im zwischenmenschlichen Bereich ist es ähnlich: Wir spüren vielleicht ein intensives Verlangen, mit einem geliebten Menschen zusammen zu sein. Wir stellen uns diesen Menschen vor, hören seine oder ihre Stimme und tragen ihn oder sie in unseren Gedanken, bis wir zusammen sein können. In beiden Fällen klammert sich der Geist an seinen Wunsch, ist besessen davon. Wenn wir an dem Gedanken an jemanden festhalten, den wir nicht mögen, ist die fundamentale Dynamik dieselbe. Das Denken ergreift das Bild des betreffenden Menschen und wird zu Aversion oder sogar Wut aufgestachelt. Ob wir nun mögen oder nicht mögen, wir sind besessen.
Um Leiden zu verstehen, müssen wir uns dieses krampfhafte Festhalten ganz genau anschauen. Wenn wir etwas Weiches berühren, ist der Geist erfreut, hält sich an dem Genuss fest und möchte, dass er bestehen bleibt. Aufgrund der Gewissheit, dass das angenehme Erlebnis zu Ende gehen wird, sind wir angespannt; wenn es endet, wollen wir es wiederhaben. Wenn wir uns an etwas Scharfem schneiden, spüren wir sofort körperlichen Schmerz, und das Denken fixiert sich auf den Wunsch, dass dieser Schmerz aufhören soll. An diesem Festhalten ist auch das Gefühl eines Selbst beteiligt, wie wir noch sehen werden. Hunger und krampfhaftes Festhalten halten sich gegenseitig aufrecht, während die Freuden und Schmerzen kommen und gehen.
Zwischenmenschlich ist die Dynamik dieselbe. Wir sehen die Gestalt eines anderen Menschen; wenn wir mit diesem Menschen Angenehmes verbinden, entsteht eine konditionierte Befriedigung. An dieser Befriedigung halten wir fest. Aber im zwischenmenschlichen Erleben hat das Festhalten mehrere Ebenen und ist deshalb eine besondere Herausforderung. Nicht nur genießen wir die angenehmen Empfindungen durch diesen Menschen, wir finden in ihm oder ihr in vielerlei Hinsicht auch momentane Linderung für hartnäckige Hungergefühle: Du bringst mir Anregung und Glücksgefühle, du machst, dass ich gesehen werde, du bist der Mensch, der mein Gefühl, wertlos zu sein, aufhebt. Während wir uns entwickeln, ist es unvermeidlich, dass wir solche Befriedigungen suchen und festhalten; sie sagen uns, dass wir leben und in Sicherheit sind. Die Hungergefühle nisten sich ein, indem wir uns innerlich festklammern an der tiefverwurzelten Idee eines Selbst – desjenigen, was befriedigt, anerkannt und beschützt werden muss – und an den Gefühlen dieses Ichs. Gleichzeitig klammern wir uns äußerlich an die andere Person. Dieses Festklammern ist nicht nur das Ergebnis des aktuellen Moments von Freude und Schmerz; sein Entstehen ist auch konditioniert durch alle Momente von Freude und Schmerz in der Vergangenheit.
Dass wir uns an dem festklammern, was angenehm ist, ist leicht zu sehen; aber es ist unbedingt notwendig, zu verstehen, dass wir uns auch an schmerzhaften Gedanken und Emotionen festklammern. Auf der ganzen Welt – Balkan, Naher Osten, Afrika – gibt es Völker, die immensen gegenseitigen Hass hegen. Wenn ein Einzelner in sich das Bild eines gehassten anderen hegt – Araber, Amerikaner, Ausländer –, hält das Denken an diesem Bild fest, obwohl dieser Hass intensiven Schmerz verursacht. Direkt vor der eigenen Haustür ist es der Ärger über einen Nachbarn, Kollegen oder Verwandten, der das festklammernde Denken etabliert, und wir halten an unseren großen und kleinen Verletzungen fest. Dieses Festklammern – ob im Hass oder im Begehren – erzeugt Anspannung, die zur Basis für Unzufriedenheit und Schmerz wird. Aus solchem Festklammern entspringen Handlungen, die den Schmerz beenden und Befriedigung bringen sollen. Wir verurteilen, verletzen den verhassten „anderen“, töten ihn sogar.
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