Zeigt sich eine Gelegenheit, die echtes Leben in unseren Alltag bringen könnte, die uns Neues in unser Dasein spülen und uns vielleicht sogar der Liebe näherbringen würde, sollte man vielleicht nicht automatisch den Kopf einziehen und auf „lieber nicht“ schalten. Solche Gelegenheiten kommen oft nie wieder, und wie man weiß, bedauert man seine Feigheit, seine Passivität oft sein Leben lang. Nichts ist unvergänglicher als das Bedauern, eine Gelegenheit zum Glück versäumt zu haben.
Ein Tag geht vorüber.
Noch ein Tag.
Viele Tage.
Ein Jahr.
Noch ein Jahr.
Wer zählt sie?
Und plötzlich – wie konnte das nur passieren? – wie konnte das nur passieren, sind wir alt. Oder zumindest sehen wir so aus. Es kommt der Tag, an dem wir Bilanz ziehen. Das kann ein runder Geburtstag sein oder der Tag, an dem wir erfahren, dass wir nicht mehr lange zu leben haben. Der Tag der Abrechnung, er steht uns allen bevor. Wir werden uns unser Leben ansehen und was wir daraus gemacht haben. Ob wir es bestmöglich genützt haben oder ob es keinen Unterschied gemacht hätte, ob wir hier auf Erden waren oder nicht. Fragen tun sich auf: Haben wir unser Leben so gelebt, wie wir es uns ersehnt haben? Haben wir die Reisen unternommen, die wir erträumt haben? Haben wir uns unseren Lebenstraum erfüllt oder dies zumindest versucht? Haben wir das gemacht, was wir eigentlich wollten, oder haben wir es nicht einmal gewagt, es zu probieren? War unser Leben für irgendwas oder irgendwen von Nutzen? Hat unser Handeln und Sein anderen geholfen? Waren wir für andere Menschen wichtig? Waren wir anderen nahe? Haben wir es genossen, hier zu sein? Waren es gute Jahre, voller Emotionen, Höhepunkte, Tränen der Freude oder nur des Leids? Hatte unser Leben Qualität?
Um nicht am Sterbebett unser (fehlendes, nicht genütztes) Leben bedauern zu müssen und um uns, eines fernen Tages, leichten Herzens von diesem Leben verabschieden zu können, ist es unermesslich wichtig, unsere Zeit, die noch vor uns liegt, mit echtem Leben zu füllen. Uns zu erfüllen. Das zu tun, was sich für uns persönlich wie echtes Leben anfühlt. Nicht die Zeit absitzen, sondern jeden Moment voll und ganz präsent sein und uns unseren Lebensträumen zuwenden. Den Mut haben, diese anzugehen, sie zu verwirklichen. Der „Erfolg“ ist völlig nebensächlich. Ob etwas gelingt, ob es gut war oder nicht, egal!
Es ist auch nicht entscheidend, „große“ Dinge zu tun. Viele haben keine hochtrabenden Träume, und es soll hier nicht darum gehen, solche künstlich herbeizureden. Wer sie hat, möge sie angehen, alle anderen sind davon befreit. Was zählt, ist, sich dem Leben zuzuwenden, das zu machen, was uns wichtig ist. Dem Grundgefühl zu folgen, das einem sagt, was zu tun ist, um Ja! sagen zu können zu dem Leben, das wir führen. Fachen wir an, was in uns lodert, und wagen wir es.
Frei werden von Lebensangst
Viele Menschen verbringen ihre Tage wie eine einzige Pflichterfüllung. Aufstehen, arbeiten, fernsehen, schlafen, aufstehen … immer wieder und immer wieder. Sie führen ein mehr oder weniger unscheinbares Leben, sie fallen ihrer Umgebung nicht weiter auf. Möglicherweise sind sie zufrieden mit ihrem Leben, möglicherweise auch nicht. Sie stellen keine großen Anforderungen und haben kaum Erwartungen. Sie leben konstant, die Tage gleiten dahin, sie leben im Rhythmus der Zeit. Winter, Frühling, Sommer, Herbst und dann wieder von vorne. Langsam werden sie alt und langsam dämmert es so manchen, dass es das vielleicht noch nicht gewesen sein kann. Da muss es doch mehr geben. Oder nicht? Andere wiederum leben im ständigen, quälenden Bewusstsein, dass sie ein sehr beschränktes, begrenztes Leben führen. Sie wissen, sie sollten etwas tun, um dem täglichen, monatlichen, jährlichen Einerlei zu entfliehen. Sie wissen: Ich bin zwar am Leben, aber lebendig bin ich nicht.
Viele Menschen, die ein sehr begrenztes Leben führen, tun dies aus der Angst heraus, dass sie ein echtes, ursprüngliches, wildes, ungezügeltes Leben überfordern würde. Als Kinder waren sie vielleicht noch wild, vielleicht aber haben sie dieses Gefühl der Wildheit auch nie kennen gelernt. Sie fühlen, da muss es mehr geben, wagen aber nicht, der Sache konkret auf den Zahn zu fühlen. Nun, wie kommt man dem ungelebten Teil seiner selbst auf die Spur? Zum Beispiel, indem man sich fragt: Was würde ich eigentlich gern tun, sein, machen, haben? Eigentlich ist das Zauberwort. Eigentlich bedeutet hier ein mögliches Leben, wenn es keine (eingebildeten, auferlegten oder selbsterschaffenen) Grenzen gäbe. Wie müsste das Leben sein, damit ich nicht nur zufrieden, sondern glücklich wäre? Wie müsste es sein, dass es wild und auch mal ekstatisch wäre statt lauwarm und schaumgebremst? Müssten sich die äußeren Umstände ändern und/oder die innere Einstellung?
Zugegeben, es ist wirklich keine leichte Übung, denn es können viele negativen Gefühle hochkommen, wenn man sich ehrlich eingesteht, wie man es denn eigentlich gerne hätte und wie das Leben tatsächlich aussieht. Soll und Haben sind oft meilenweit voneinander entfernt.
Wenn Sie jedoch den Mut aufbringen, sich einen Lebensentwurf zu skizzieren, der nicht nur lauwarm, sondern wirklich heiß ist, dann machen Sie sich klar, was Sie bisher an seiner Realisierung gehindert hat. Schnell werden altbekannte Argumente auftauchen, wie: Geld verdienen müssen, was würden denn mein Partner, meine Eltern, meine Kinder oder wer auch immer davon halten, wenn ich Schluss mache mit dem lauwarmen, dafür aber beständigen Leben, das ich führe? Der Umgebung würde so ein Lebens-Wandel vielleicht nicht gefallen, das stimmt. Es kann aber auch sein, dass Sie schon jetzt kaum mehr jemandem gefallen, wenn Sie stumpf, trübsinnig und ohne Lebenslust durch Ihre Tage stolpern. Vielleicht würde die neue Version Ihrer selbst auch das Leben der anderen verbessern?
Es gibt viele Gründe, warum so viele von uns ihr Leben so leben, als wäre es endlos, ewig gleich dahinplätschernd, ohne Höhen und Tiefen. Ein gewichtiger Grund, den wir uns kaum eingestehen wollen, ist die Lebensangst. Die Angst, wirklich und echt zu leben. Es stimmt ja: Viel leichter ist es, sich hinter dem Schreibtisch, der Arbeit, dem Fernseher, dem Videospiel zu verschanzen als hinauszutreten und zu sagen: „Leben, hier bin ich!“ Die Angst vor dem Unbekannten, die Angst vor Veränderung ist enorm. Lieber haben wir die bekannte Hölle als den unbekannten Himmel, auch hier auf Erden.
Sie sagen, auf Sie trifft das nicht zu? Dann erinnern Sie sich einmal: Machen Sie das, wovon Sie als junger Mensch geträumt haben? Oder haben Sie sich arrangiert? Sind Sie Musikproduzent statt Musiker? Bankbeamter statt Fondmanager? Kulturkritiker statt Bestsellerautor? Verkaufen Sie Autos, statt Rennen zu fahren? Machen Sie etwas, das dem, was Sie eigentlich immer machen wollten, zwar irgendwie ähnlich ist, aber eben nicht das, was Sie wirklich wollten?
Wenn Sie sagen: „Stimmt schon, früher wollte ich das, aber heute bin ich ein anderer“, dann ist das natürlich in Ordnung. Wenn es denn auch wahr ist. Dann kann man sich von den alten Hüten trennen und sie aus seinem Leben (auch sehr bewusst) entlassen. Es ist sehr erleichternd, erledigte alte Wünsche und Sehnsüchte loszulassen. Das bringt uns ein gutes Stück Freiheit. Wenn man freilich erkennt, dass die alten Sehnsüchte immer noch in einem schlummern und man diese immer nur verdrängt oder sich ihrer Erfüllung gar bewusst verweigert hat, dann gilt es zu entscheiden, ob man diesen Zustand auch künftig aushalten will oder ob man sich an die Verwirklichung seiner Träume macht.
Wie auch immer Ihre Situation ist, eines jedenfalls bringt Ihnen ein großes Stück Freiheit: eine Entscheidung. Am Ende des Analysierens, des Durchdenkens und Durchfühlens Ihrer Situation sollte Ihre Entscheidung stehen. Ansonsten kommen Sie keinen Schritt vorwärts. Entscheidungen bringen Freiheit.
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