Ich hatte mich sofort verliebt, und Meditation, den langweiligen Atem beobachten und dieses Gehen, immer nur hin und her, erachtete ich bei der Größe meiner Empfindungen als absolut zweit-, wenn nicht drittrangig, wenn ich sie überhaupt noch irgendwie erachtete.
Und nun war ich in einer fast neuen und doch bekannten Welt angekommen – der Welt der Sinnlichkeit, und sie schmeckte süß.
Wer wollte mir jetzt noch etwas erzählen? Welcher Mönch konnte da noch mithalten? Und ich fantasierte die schönsten Vorstellungen und Unternehmungen, die ich nach dem Retreat mit dieser jungen Frau haben könnte.
Der Atem kam und ging auch ohne mich, und ich war nun einige Stunden damit beschäftigt, mich mit diesem neuen ‚Verliebtsein‘ anzufreunden. Ich suchte mir einen Gehpfad in ihrer Nähe aus, schaute oft in ihre Richtung mit der sicheren Gewissheit, dass es ihr bestimmt auch so gehen würde. Es war schon der vierte Retreat-Tag, und ich müsste ihr doch schon längst aufgefallen sein.
An diesem Abend war Santikaro an der Reihe, wieder eine Belehrung in Form eines Vortrages zu halten. Er begann allgemein über die Wirkungsweise des Geistes zu sprechen, über die wechselnden geistigen Inhalte, aber was viel interessanter war als das, was er anfangs erzählte, war: Mein Engel hatte heute Abend ein langes, weißes Kleid an, ihre blonden Haare lagen lang und sanft auf ihren Schultern und sie saß in einer bestechenden, edlen Haltung da, und meine Schwärmereien wollten nicht enden.
Santikaro meinte dann, dass es bei Schweigeseminaren ein interessantes Phänomen gebe, allgemein bekannt als Vipassana-Romanze. Bei dem Wort Romanze wurde ich aus meinen Fantasien herausgerissen. Schaute er gerade in meine Richtung? Hatte er meine Gedanken gelesen und mich dabei ertappt? Ich fühlte mich ertappt!
Er erklärte weiter, dass wir im Schweigen noch stärker mit unserem Bewertungssystem konfrontiert würden und alles, was wir sehen, ganz gewohnheitsmäßig in positiv und negativ, mögen oder nicht mögen einteilen würden, und wir sollten erkennen, wenn das passiert.
Und es könnte schon mal vorkommen, dass man sich verlieben, also jemanden übersteigert aufwerten und gleichzeitig jemand anderen maßlos abwerten würde. Und er ergänzte, dass das ein Versuch des Geistes sei, eine gewisse Sicherheit in der gewohnten und bekannten Bewertungsstruktur zu finden.
Ich war sprachlos, nicht nur, weil das ein Schweigekurs war, sondern weil mein schönes, buntes, verliebtes Kartenhaus, bei so viel nüchterner Erklärung, einfach in sich zusammenfiel. Ich fühlte mich ertappt, erwischt, entlarvt – und plötzlich wieder alleine und ernüchtert, so, als hätte mir jemand etwas Schönes weggenommen. Es war wie das Zerplatzen einer Seifenblase, in der sich alles Bunte und Schöne dieser Welt widergespiegelt hatte.
Natürlich wusste ich tief drinnen, dass ich letztendlich diesen Impulsen nicht gefolgt wäre, denn ich war ja mit Anna zusammen, und doch hatten diese Gedankenspiele einen besonderen Reiz.
Am nächsten Morgen gab es keinen ‚Engel‘ und keinen ‚blöden Franzosen‘ mehr.
Ich fühlte mich entlarvt und bekam nun etwas Abstand zu meinen Fantasien – und musste plötzlich schmunzeln, ja schon fast laut loslachen.
Ich war beeindruckt, auch über die Vorhersagbarkeit solcher Ereignisse. Ich wollte mehr über meinen Geist erfahren, über die Gedanken und Gefühle, ich wollte diese Weisheit haben, ich wollte Erkenntnisse und Wissen und natürlich die Erleuchtung, worüber ich schon einiges gelesen hatte.
Die nächsten Tage verliefen im gleichen Rhythmus wie zuvor. Ich befolgte weiterhin die Anleitungen und lauschte interessiert den Vorträgen. Ich hatte jetzt ein Ziel, irgendwie.
Nachmittags wurde eine Fragestunde eingerichtet, bei der man aber nur Fragen stellen sollte, die mit der Meditation zu tun hatten.
Buddhismus ist dafür bekannt, dass an Wiedergeburt geglaubt wird. So ergab es sich, dass neben Fragen über den Sinn und Zweck der Meditation, Meditationserlebnisse und die Bitte um weitere Erklärungen viele Fragen über Karma und Wiedergeburt gestellt wurden.
Ajahn Buddhadasa lehne es aber ab, so Santikaro, über die Art von Wiedergeburt zu sprechen, die angeblich nach dem Tod des Körpers stattfinden würde, sondern er erkläre Wiedergeburt auf eine sehr praktische Weise. Wie ich oben schon anmerkte, wollte Ajahn Buddhadasa etwas lehren, was einen praktischen und nachhaltigen Nutzen hatte, und zwar in diesem Leben. Es stand also nicht die Frage im Vordergrund: Gibt es ein Leben nach dem Tod?, sondern: Was für ein Leben führe ich vor dem Tod?
Santikaro kam nicht mehr darum herum, etwas dazu zu sagen: „Wiedergeburt ist etwas, was du jeden Tag mehrmals erlebst. Es ist die Geburt in einen Bewusstseinszustand hinein. Immer wenn du Kontakt mit der Außenwelt hast, entsteht ein Gefühl des Mögens oder Nicht-Mögens, dann willst du dieses ‚Ding‘ oder du willst es nicht. Dann machst du eine gewisse Anstrengung, auf dieses Ding zuzugehen oder von ihm weg. Das bestimmt in diesem einen Moment dein Leben, deine Existenz, und dementsprechend fühlst du dich. Auf Grund der Gefühle entstehen deine Wünsche. Sobald du an ihnen anhaftest, kommst du ins Handeln, um sie dir zu erfüllen, und du wirst so in einen bestimmten Bewusstseinszustand hineingeboren. Das kann an einem Tag mehrere hundert Mal passieren.“
Ja, das hatte ich doch gerade erlebt. Bekam ich jetzt nicht die Theorie nachgeliefert für das Erlebnis, das ich da hatte? Die Geburt eines Engels und der Tod eines Engels, die Geburt eines blöden Franzosen und der Tod desselben. Aber das alles geschah doch nur in mir. Ich war als der ‚Verliebte‘ geboren und durch das, was ich dann hörte, ‚starb‘ der Verliebte wieder. Und immer wenn ein Gefühl entsteht, wird man in diesen Zustand ‚geboren‘. Das leuchtete mir ein.
Ich war begeistert, wie klar das plötzlich für mich war, und begann von nun an, alle diese Gefühlszustände als eine neue Geburt zu sehen, mit der Gewissheit, dass diese Zustände auch wieder ‚sterben‘ mussten.
Jede Freude, jeder Ärger, jede Eifersucht, die Schmerzen in den Beinen, Gedanken, Gefühle und das Essen, was ich oben reinschob, plumpste es nicht kurze Zeit später unten wieder heraus? All das entstand, verweilte und verging auch wieder.
Wenn das nicht eine tiefe Erkenntnis war, dachte ich, die mich der Erleuchtung einige Schritte näherbrachte?!
Die Tage vergingen in diesem Rhythmus und ich begann mich daran zu gewöhnen, morgens um vier Uhr aufzustehen, zum Frühstück Reis und Gemüse zu essen, zu schweigen, zu meditieren und zu beobachten, was da so durch meinen Geist zog.
Der letzte Tag war angebrochen und heute würde uns Ajahn Buddhadasa zum Abschied einen Vortrag halten. Nach dem Frühstück versammelten wir uns am Hin Kong, dem Steinkreis.
Große Steine, auf denen man sitzen konnte, waren dort in einem Kreis angeordnet, drumherum wuchsen große Bäume, alles auf sandigem Boden. Am oberen Ende stand eine Holzplattform, die aus einer großen Baumwurzel herausgearbeitet war und auf der der jeweilige Mönch saß, der einen Vortrag hielt. Das war hier so Brauch.
Ajahn Buddhadasa war schon achtzig Jahre alt, hatte einen rundlichen Körper, war gekleidet in die bei buddhistischen Mönchen übliche orangefarbene Robe und er näherte sich langsam der Plattform, gestützt auf einen hölzernen Gehstock, und nahm Platz.
Er hatte eine klare, sehr gesammelte und ruhige Ausstrahlung, und während ich das hier schreibe, weiß ich, dass ich es eh nicht mit Worten einfangen kann, wie ich ihn erlebte. Aber ich fühlte plötzlich eine tiefe Verbundenheit zu diesem Mann. Nein, er war mir nicht fremd, alles hier war mir nicht fremd, und wie ich schon gesagt habe: Es fühlte sich an, als ob ich zuhause angekommen sei. Ich war selbst sehr erstaunt darüber.
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