Anna und ich freuten uns auf ruhige Tage mit Sonne, Strand und Meer.
Aber es war wirklich so, dass ich mir viele Fragen über den Sinn und Zweck unserer Reisen stellte. Und diese Fragen weiteten sich auf alles Mögliche aus, bis ich schlussendlich zu der Frage kam: Was ist eigentlich der Sinn dieses Lebens, um was geht es hier wirklich?
Wir hatten auf unserer Reise auch viel Leid und Elend gesehen: kleine Kinder, die verwahrlost bettelten, alte und kranke Menschen, die auf der Straße lebten, gestresste, überarbeitete Rikscha-Fahrer, aggressive Jugendliche, die sich mit Messern bedrohten, und vieles mehr.
Anna schien an diesen Fragen kein gesteigertes Interesse zu haben, sondern genoss in ihrer Leichtigkeit unsere gemeinsame Reise.
Ernüchterung
Am Abend desselben Tages saß ich am Strand im warmen Sand, die Sonne war am Untergehen, der blaue Himmel von leichten Wolken betupft, ein wundervolles Farbenspiel, ganz leichte Wellen bewegten sich auf dem großen, weiten Meer und ich ließ meinen Blick am Horizont ruhen.
Ich fühlte eine Sattheit in mir, keine Sehnsucht nach neuen Ländern, keine Sehnsucht nach noch mehr Erfahrungen und Erlebnissen. Ich war irgendwie müde von dem ganzen Umherreisen der letzten Wochen, doch es war keine körperliche Müdigkeit.
Ja, ich weiß, unsere Freunde in Berlin beneideten uns dafür, dass wir die Zeit hatten, zu reisen und tolle Erlebnisse zu haben, ja, das mag alles sein. Aber da waren nur diese ständigen Erfahrungen, und ich hatte nichts gefunden, was mich wirklich begeistert oder gar erfüllt hätte.
Menschen sind überall ziemlich gleich, dachte ich mir, nur die Kulturen sind anders. Alle suchen sie ihr Glück auf den verschiedensten Wegen, alle wollen Unwohlsein vermeiden und ihr Wohlsein mehren – um es mal auf diese einfache Formel zu bringen.
Hatte nicht Laotse einmal gesagt: Der Weise verlässt nie sein Haus und kennt trotzdem die ganze Welt?!
Irgendwie beschlich mich schon länger dieses eigenartige Gefühl, dass es nirgends etwas zu finden gebe, was mir als ewiger Wert erhalten bleibt. Falls es so etwas tatsächlich gibt, dann hatte ich es noch nicht gefunden oder irgendwie übersehen. Auch die großen Wellen des Meeres kommen und bleiben nicht, und die kleinen schon gar nicht. Ja, irgendwie kommt und geht alles wieder. Und jetzt geht Anna auch noch nach Japan.
Ich erschrak bei dem Gedanken, oder besser bei dem Gefühl, dass ich da sogar eine seltsame Erleichterung spürte und ich mich auf eine Zeit mit mir alleine freute. Was war das denn? Sollte ich nicht traurig sein? Abschiedsschmerz fühlen? Nein, nichts davon war spürbar.
Ich mochte Anna sehr. Ob ich sie liebte? Was heißt das schon?
Das Wort Liebe habe ich noch nie gerne benutzt. Auch das Wort Glück hatte ich nicht in meinem Wortschatz. Diese beiden Worte hatten für mich immer etwas Verdächtiges. Vielleicht, weil ich hinter deren Bedeutung eine Art ewiges Verweilen erhoffte, was ich allerdings noch nicht erlebt hatte.
Ich glaube, ich habe noch nie gesagt: „Ich bin glücklich.“ Zu diesem Wort hatte ich schon immer ein gespaltenes Verhältnis; denn Glück ist für mich ein Gefühl, das sich nie ändern sollte, ein letztendlicher Zustand. Und ich hatte bislang noch keine letztendlichen Zustände erlebt. Das Gleiche empfand ich auch bei dem Wort Liebe.
Ich dachte an Berlin und fühlte keine Freude in mir aufsteigen, wieder dorthin zurückzugehen. Ja, die Freunde, mein Geschäft, mein Bruder Reinhold, der mittlerweile bei mir wohnte. Die Stammkneipen, diese ewig langen Nächte, das Saufen und Kiffen, das Spielen, das oft unsinnige Gerede und die ganzen Pläne und Vorhaben, die immer wieder zum Besten gegeben wurden. Ich fühlte dieses ewige Einerlei, war freudlos, desinteressiert, gelangweilt und widerwillig bei dem Gedanken, mein Leben in Berlin wieder aufzunehmen. Ich war wirklich satt. Mein Freund Burkhard sagte manchmal: „Es steht mir bis zur Oberkante Unterlippe“, und das traf es irgendwie.
Eines hatte ich jedoch auf diesen Reisen erkannt und schätzen gelernt: Wie wenig man zum Leben wirklich brauchte. Da war mein Rucksack, gefüllt nur mit den notwendigen Dingen des Alltags. Und es reichte vollkommen aus. Mehr brauchte es nicht.
Ein leichtes Lächeln fühlte ich auf meinem Gesicht und meine Lippen sprachen das Wort Freiheit. Ja, das war es, was ich wollte – Freiheit.
Ich wusste zwar nicht genau, was das war, aber es hörte sich gut an.
Dann rief Anna meinen Namen und ich schlenderte langsam zum Restaurant, das nur wenige Meter vom Strand entfernt stand. Wir wollten zusammen zu Abend essen und trafen Andy und Art wieder, mit denen wir uns schon Wochen vorher angefreundet hatten.
Eine Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt …
Und während wir uns das Essen schmecken ließen, erzählte Andy, dass er in ein paar Tagen in ein Kloster gehen wolle, er sei schon mal dort gewesen und man könne meditieren lernen. Am Ersten jeden Monats beginne dort ein sogenannter Retreat, zehn Tage dauere er und koste sehr wenig.
In mir stockte plötzlich alles, auch mein Mund kaute das Essen nicht mehr weiter und eine sichere Stimme in mir sagte: Da musst du hin!!!
Aber ich hatte doch nur noch wenige Tage mit Anna, egal, ich musste da hin. Da ich irgendwie nicht an Zufälle glaubte, dachte ich, dass diese Nachricht die direkte Antwort auf meine Lebensfragen war, die ich seit neuestem immer wieder in meinen Gedanken entdeckte.
Andy wollte schon ein paar Tage vorher dort sein und reiste am nächsten Tag ab. Er hinterließ mir aber noch die genaue Wegbeschreibung, um in das buddhistische Kloster Wat Suan Mokkh zu gelangen. Ich erzählte das Garun, einem Thailänder, der meinte nur, ja, ein guter Ort, er kenne ihn und auch der Name des Klosters sei sehr bedeutungsvoll und heiße Garten der Befreiung.
Ja, das war es doch, das Wort Freiheit klang immer noch in mir und steckte in diesem Namen, und eine leise Freude machte sich in mir breit und bestätigte mir so die Richtigkeit dieser Entscheidung. Für Anna war es scheinbar okay.
Ich versicherte ihr, dass ich sie dann noch zum Flughafen nach Bangkok begleiten würde; denn wenn ich zurückkäme, hätten wir ja immer noch ein paar Tage zusammen.
In drei Tagen wollte ich los, denn der Kurs beginnt immer am Ersten jeden Monats.
An diesem letzten Abend saßen Anna und ich zusammen am Meer und unterhielten uns über dies und das, über die letzten Wochen, Japan und was alles vielleicht noch kommen würde.
Wir waren gut drauf, wie so oft in leichter Oberflächlichkeit, wo Gesagtes schnell wieder verklungen war, niemand mehr darüber nachdachte und sich neue Worte zu Sätzen formulierten, die auch gleich wieder, kaum ausgesprochen, in der Unendlichkeit verklangen, ohne irgendwelche Abdrücke zu hinterlassen.
Ich freute mich auf morgen und fühlte eine leise Erregung in mir aufsteigen. Meinen Rucksack packte ich schon am gleichen Abend, denn ich musste sehr früh los, um die erste Fähre nehmen zu können.
In dieser Nacht hatte ich einen sehr intensiven Traum: Ich liege auf einem Bett, und eine Hand kommt von irgendwo her, sticht durch meine Brust, greift in mein Herz und reißt einen Teil des Herzens heraus. Es fühlt sich überhaupt nicht schmerzhaft an, sondern ich spüre plötzlich eine große Befreiung und Leichtigkeit, denn es wurde etwas Schweres, Dunkles, Belastendes von meinem Herzen genommen und im Hintergrund sagt eine Stimme klar, deutlich, laut und eindringlich zu mir: „Erneuere dich!“
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