Der Wecker riss mich aus diesem Traum. Ich zog mich an, verabschiedete mich schnell, aber liebevoll von Anna, nahm meinen Rucksack, erreichte die Fähre pünktlich, der Bus nach Chaiya wartete schon auf dem Festland, und irgendwann sagte der Busfahrer: Wat Suan Mokkh.
Wat Suan Mokkh – Garten der Befreiung
Eine neue Welt eröffnet sich …
In dem Bus waren noch andere Farangs, wie die Westler in Thailand genannt werden, die ebenfalls an dem Retreat teilnehmen wollten.
Als ich das Kloster betrat, bemerkte ich die großen Bäume und wilden Pflanzen, einige einfache Holzhütten, gefegte Wege, weiter oben standen einige Steinbänke vor einem schlichten Steinhaus. Hier wurden wir von Mönchen weitergeleitet in Richtung Küche, wo man sich für den Retreat registrieren lassen konnte.
Als wir ankamen, saßen dort schon einige Teilnehmer mit Tassen in der Hand im Freien auf Holzstühlen und unterhielten sich leise. Dann sah ich das erste Mal einen Westler in einer buddhistischen Robe. Es war Santikaro, ein Amerikaner, der schon zwei Jahre in Suan Mokkh lebte und als Übersetzer für Ajahn 1 Buddhadasa , den Abt des Klosters, tätig war. Er leitete auch die Retreats.
Santikaro war sachlich-freundlich, lächelte kaum und wenn doch, dann nur sehr flüchtig.
Er gab uns weitere Infos über die Registrierung, wo wir wohnen und wann es heute Abend losgehen würde.
Wir wurden, nach Geschlechtern getrennt, in kleinen Holzhütten untergebracht, die als Schlafsäle dienten, mit jeweils sechs einfachen Betten und darüber zusammengeknoteten Moskitonetzen. Die Halle, die uns als Ort der Unterweisung dienen sollte, wurde früher von Pfadfindern genutzt. Sie stand mitten auf einer großen Wiese, umrandet von Wald mit großen Bäumen, zirka fünf Minuten Fußweg von unserer Unterkunft entfernt.
Kurz vor 20 Uhr ertönte eine laute, tiefe Glocke, die anzeigte, dass es an der Zeit war, uns in die Halle zu begeben.
Zwei thailändische Mönche wiesen uns unsere Plätze zu. Jeder bekam eine Matte und ein Sitzkissen. Die Männer saßen auf der rechten Seite und die Frauen auf der linken. Vor uns war eine erhöhte Bühne, worauf eine zirka ein Meter hohe Buddha-Figur stand und vor der sich Santikaro im Schneidersitz niedersetzte. Der Raum wurde von Petroleumlampen erhellt und vor dem Buddha brannten noch ein paar Kerzen.
Wir waren ungefähr dreißig Teilnehmer, alle waren still, nur die Geräusche des Dschungels waren zu hören, es fühlte sich sehr ruhig und friedlich an.
Dann ertönte ein kleiner Gong und Santikaro erzählte, wie die nächsten Tage ablaufen würden: Retreat bedeute Rückzug vom Alltäglichen. Es gehe darum, sich selbst zu erforschen, die Kräfte in sich kennenzulernen, es gehe darum, den Geist durch Meditation in einen ruhigen Zustand zu bringen, die Gedanken zu beobachten und auch die Gefühle. Und das alles natürlich im Schweigen.
Schweigen? Also nicht reden? Auch nicht beim Essen oder bei einem Spaziergang?
Nein, Schweigen heißt Schweigen! Er erklärte, dass es den Geist dabei unterstütze, zur Ruhe zu kommen, die Gedanken zu beruhigen, denn Reden sei ja, genau genommen, verbalisiertes Denken.
Zum Abschluss leitete er eine Meditation an, in der wir einfach nur hier sein, uns mit dem Atem verbinden und bemerken sollten, wie er einströmt und wieder ausströmt.
Das war der Anfang, und als der Gong ertönte, gingen wir schweigend zu unseren Hütten und legten uns in die Betten. Ich war sehr müde, ließ mein Moskitonetz herunter und schlief sofort ein.
Der nächste Tag begann um vier Uhr morgens, eingeläutet von der gleichen lauten, dunkel klingenden Glocke, die uns schon am Abend zuvor zur Meditation gerufen hatte.
Um halb fünf waren alle in der Halle versammelt, und wir wurden wieder in der Meditation angeleitet. Nach vierzig Minuten ging wieder der Gong.
Santikaro erklärte noch ein paar organisatorische Abläufe und dann hatten wir Zeit, die Waschräume und Toiletten aufzusuchen, im Wald herumzulaufen, den Ort langsam kennenzulernen, denn Frühstück gab es erst um sieben Uhr. Das bestand aus Reis, verschiedenen thailändischen Gemüsesorten und Früchten, kein Fleisch. Das Essen war vegetarisch und zu trinken gab es Sojamilch in allen Variationen.
Wir nahmen unser Essen, serviert auf Blech- oder Plastiktellern, auf kleinen Holzstühlen sitzend im Freien ein. Es schmeckte richtig gut.
Es war sehr seltsam, mit dreißig Menschen zusammenzusitzen und nicht zu reden. Nicht nur ungewohnt, fast schon peinlich fühlte es sich zuweilen an.
Dann wieder die laute, dunkle Glocke, und um neun Uhr waren wieder alle in der Halle versammelt. Ich riskierte einen Blick auf die andere Seite der Halle, wo die Frauen saßen, und entdeckte sogleich einige, die recht attraktiv aussahen.
Andy saß auch in der Halle, etwas weiter vorne.
Santikaro nahm wieder vor dem Buddha Platz und hieß uns nochmals offiziell willkommen.
Er wünschte uns eine fruchtvolle und erkenntnisreiche Zeit und meinte, wir sollten das Beste aus dieser Zeit herausholen, denn es gehe auch darum, neu auf das Leben zu schauen und es dadurch vielleicht auch neu zu bewerten.
Was er da sagte, kam mir sehr entgegen. Sprach er nicht genau das an, was ich am Strand sitzend gefühlt hatte? Diese Sattheit und Unerfülltheit und auch die Ratlosigkeit, in welche Richtung ich gehen sollte?
Ich fühlte mich sehr wohl mit dem, was ich da hörte, und es gab keinen besseren Platz auf der ganzen Welt, wo ich in diesem Moment lieber gewesen wäre.
Dann leitete er wieder eine Meditation an und erklärte anschließend die Gehmeditation.
Das heiße, einfach nur zu gehen und sich sehr bewusst darüber zu sein, wie sich der Fuß hebt, nach vorne bewegt und wieder senkt. Und wir müssten nirgendwo ankommen, außer immer nur in diesem Moment. Alles klar, kein Problem, mach ich!
Dann lief ich hin und her, wie alle anderen auch, und dachte über alles Mögliche nach.
Was macht Anna eigentlich gerade? Meine Freunde in Berlin, ja und Reinhold, mein jüngerer Bruder, Mama und Papa in Fulda, gut, dass ich immer mal eine Postkarte schrieb. Michael, mein älterer Bruder, und seine Frau Uschi. Hoffentlich kommen genug Aufträge im Frühjahr rein … upps … Also, habe ich gerade den rechten oder linken Fuß oben? Der Fuß geht hoch, bewegt sich durch den Raum und setzt vorne wieder auf. Das war Gehmeditation. Gehen, ohne anzukommen, und zu wissen, dass man das tut, das sei Achtsamkeit, erläuterte Santikaro später.
Und die Aufmerksamkeit immer, so gut es halt geht, im Moment zu halten bei allem, was man gerade tut, sei ein Aspekt der Meditation.
Vom Gehen habe ich kaum etwas mitbekommen. Ich bemerkte im Nachhinein nur, wie viele Gedanken ständig in meinem Geist kreisten, dass ich ständig an etwas dachte und das Gehen gar nicht mitkriegte.
Dann wieder zurück in die Halle, schweigend, leise, achtsam sein, sich wieder in die Meditationshaltung begeben und ab jetzt die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken, einatmen, ausatmen und spüren, wo ich den Atem gerade fühle.
Und so wurden wir in das Meditationssystem von Anapanasati eingeführt, was heißt, die Ein- und Ausatmung achtsam wahrzunehmen.
Mit diesen wechselnden Übungen verbrachten wir den ersten Tag, dazwischen eine Mittagspause, dann wurden Texte rezitiert, wieder meditiert, Abendessen, und am Abend gab es einen Vortrag.
Santikaro war, wie ich anfangs schon erwähnte, ein Schüler von Ajahn Buddhadasa, dem achtzigjährigen Abt des Klosters.
Er gründete dieses Kloster schon vor vielen Jahrzehnten, und später erfuhr ich, dass ich bei einem der bekanntesten und wohl auch einflussreichsten Meditationslehrer gelandet war, die es in Thailand gab. Er hatte den Buddhismus lange studiert und schließlich erkannt, dass der gelebte Buddhismus in Thailand stark vom Ursprünglichen abwich, und er wurde zu einer Art Reformator.
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