Mit dem Reden ist das freilich so eine Sache. Denn angeblich sind die Sätze, die wir sprechen, wie die Sätze, die die Affen von Baum zu Baum machen. Sind die Sätze falsch, sind die Affen über kurz oder lang tot. Die falschen und wahren Sätze herauszufinden, sozusagen das Leben durchzuprobieren, indem wir von ihm berichten, erspart uns und den anderen Leid und Tod. Der Vergleich kommt von Theoretischen Biologen rund um Karl Popper. Um Fehlerkultur geht es. Im Reden und Denken probieren wir versuchsweise Wirklichkeiten aus. Wir lassen unsere falschen Sätze an unser statt sterben. Durch bewusstes Durchprobieren, bewusstes kreatives Fehlermachen, bewusstes Fehlersuchen überleben wir selber und helfen anderen, dass sie überleben können. So – aber zugleich als unaufdringliche, ruhige Musslosigkeit – verstehe ich den heutigen Abend. Und genau gerade so auch die von mir publizierten Auswege -Gespräche mit dem Konjunkturforscher, Gleichheits- und Sozialstaatsökonomen Markus Marterbauer, mit dem Opfer-, Kriegs- und Friedensberichterstatter Fritz Orter und mit dem gesundheitspolitischen Arzt Werner Vogt. Werner Vogt war, wie Sie wissen, Freund Friedrich Zawrels und ist Hauptinitiator des Volksbegehrens Sozialstaat Österreich gewesen, Mitbegründer der Kritischen Medizin, erster Wiener Pflegeombudsmann und wurde für, so wortwörtlich, überdurchschnittliche Zivilcourage von der Ärztekammer 2013 mit dem Goldenen Ehrenzeichen ausgezeichnet. Der Teammensch Vogt hat – ohne dass ich heute hier irgendeine auch nur geringste Form von Institutionenverklärung oder Personenkult zu betreiben gedenke, erlaube ich mir, Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, dies jetzt wieder in Erinnerung zu rufen, sofern Sie es nicht präsent haben – Menschen geholfen, die, sehr oft von Kind an, aufgegeben waren, und hat sehr oft tatsächlich Unglück ins Glück zu drehen vermocht. Seine Überlegungen und Erfahrungen sind sehr wohl – meiner Meinung nach – auf jeden helfenden Beruf anwendbar und übertragbar.
Ein paar der Auswege, die Marterbauer, geboren 1965, Orter, geboren 1949, Vogt, geboren 1938, ihr Berufsleben lang zu erarbeiten und zu realisieren versucht haben, werden am heutigen Abend weitererzählt und öffentlich gewogen werden. Fritz Orter hat sich in den Gesprächen der Auswege-Reihe unter anderem gefragt, warum es kein Unterrichtsfach gibt, das Helfen heißt. An Marterbauer habe ich z. B. die Frage gestellt: Bevor es zu spät ist – was jetzt, was tun? Und an Vogt z. B. die Frage: Wie schützt man Menschen und wehrt sich selber?
Es geht sowohl bei Vogt als auch bei Orter als auch bei Marterbauer, meine ich, richtig verstanden zu haben, immer wieder darum, dass der Zweck selber das anzuwendende Mittel ist. Ich weiß nicht, ob Sie, sehr geehrte Damen und Herren, für die folgende Stelle Verwendung haben. Es ist ein Vogtzitat, dem Orter zugestimmt hat. Mit Vorbehalt von Ort und Zeit, aber doch voll und ganz. – Zitat Vogt: Das Ziel ist da tatsächlich der Weg. Auf die Weise erspart man sich und den anderen die zeit- und kraftraubenden Umwege, die zu nichts führen als in die Irre, und die Ausflüchte, die ohnehin danebengehen. Wenn das Ziel der Weg ist, braucht man und darf man nichts aufschieben. Das, was zu tun ist, wird dadurch getan, dass man es tut .
Mit anderen Worten: Der Rechtsstaat wird aufrechterhalten, indem man ihn aufrechterhält, die Demokratie wird dadurch praktiziert, dass man sie praktiziert, gelernt wird dadurch, dass man lernt, geredet miteinander wird dadurch, dass man miteinander redet, geholfen wird dadurch, dass man hilft. Was schadet, wird dadurch unschädlich gemacht, indem man es unschädlich macht. Nicht aufgegeben wird dadurch, dass man nicht aufgibt. Durchgesetzt wird etwas dadurch, dass man es durchsetzt. Gewollt wird dadurch, dass man will. Und so weiter.
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Um den Alltag geht es heute Abend, um nichts sonst. Als ich mich vorweg ein paar Wochen lang umgehört habe, um die Möglichkeiten des heutigen Abends zu verstehen, bin ich just angesichts des Alltags gefragt worden, ob es in Wahrheit nicht ganz offensichtlich eine Lüge sei, dass unser aller Lebenserwartungen inzwischen derartig hoch sind und künftig noch höher sein werden. Zwar hören, hieß es, die Leute verständlicherweise dankbar und liebend gerne, dass sie selber alt werden und ihre Kinder lang und wohlbehalten leben werden. Und die Leute glauben deshalb auch sofort, dass das jetzige Pensions- und Pensionsantrittssystem völlig falsch aufgestellt sei – aber sind in Wirklichkeit nicht die Unterschiede in der Lebenserwartung je nach Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen beziehungsweise Schichtzugehörigkeit nach wie vor krass und gewaltig? Außerdem gebe es von der Statistik Austria ein Programm im Internet, das einem ausrechne, wann man sterben werde, man brauche einzig nur sein eigenes Geburtsdatum eingeben und sogleich erscheine einem per Mausklick das eigene Lebensende auf die Kommastelle genau. Wenn man in dieses Programm der Statistik Austria allerdings die Geburtsdaten seiner Kinder eingebe, werde man perplex sein, weil wahrscheinlich feststellen, dass die eigenen Kinder eine kürzere Lebenserwartung haben als man selber. Wie geht das denn alles akkurat mit dem zusammen, was die Gesundheits- und Pensionsökonomen in Permanenz medial reden und in Expertenmanier politisch anraten? – Und wieder jemand anderes wollte auf der Stelle wissen, ob es wirklich wahr sei, dass man als Kassenpatient ein höheres Infektionsrisiko bei Operationen habe als die Klassepatienten, weil die Klassepatienten üblicherweise früher am Morgen operiert werden, in noch frischsauberstem OP. Und ob man als Kassenpatient wirklich Gefahr laufe, eher den schlechteren Heimplatz zu bekommen denn als Klassepatient. Warum der ORF nicht ganz selbstverständlich – beispielsweise ausgehend von den Bemühungen Friedrich Orters um mediatorenartigen, die Konflikte bereits im Entstehen analysieren wollenden und dadurch aufzulösen versuchenden Journalismus –, warum also der ORF nicht ein Friedensprogramm entwickle, sozusagen ein Friedensformat, wurde auch gefragt. Und vor allem, wann die Filmdokumentation fertiggestellt und zu sehen sein werde, von der Orter im Auswege-Buch erzählt. Genannte Dokumentation handelt, soweit ich weiß, davon, wie die Schicksale waren und sind, also was aus den Menschen geworden ist, von denen er in den letzten Jahrzehnten mithilfe seiner Kamerateams berichtet hat, aus 14 Kriegen. Und wo er, ich weiß nicht, ob das in der Dokumentation vorkommen wird, zum Beispiel Zeuge war, als ein Mann in seinem Haus zu verbrennen drohte. Weil Orters Kamerateam filmte, wurde dieser Mann von den örtlichen Einsatzkräften gerettet, sonst hätte man ihn verbrennen lassen. Oder zum Beispiel ein Kind mit weggefetzten Beinen, der Vater hat es in den Armen gehalten; infolge der Anwesenheit des Orterschen Kamerateams und aufgrund des Nachrichtenberichtes wurde der Bub ausgeflogen und behandelt und lebt. Und zum Beispiel hat auch gerade Orters Berichterstattung aus Rumänien während der Revolution, vor allem aus Temeswar – wo er die Arbeit der Unfall- oder vielleicht besser gesagt Kriegschirurgen Poigenfürst und Vogt mit seinen journalistischen Mitteln unterstützte –, dazu beigetragen, dass damals die österreichische Rumänienhilfe weiterhin möglich und tatsächlich hilfreich war und es auch blieb. Und wenn Orter zum Beispiel die beklemmenden Sprüche wiedergibt, die diverse Mordende immer wieder zu ihm gesagt haben: Wir bringen dich nicht um, du gehörst zu uns oder etwa Wir bringen nur die um, die uns umbringen , hätte Orter (nicht bloß meiner Meinung nach, sondern auch der Meinung von mich Fragenden nach) durch diese Beschreibung der beklemmenden Kriegspsychologie Wesentliches zur Herstellung von Frieden beizutragen. Und genauso auch, wenn er unideologisch berichtet, worum es in den selbstverständlich auch medial eskalierenden Konflikten und Kriegen tatsächlich geht, z. B. in der Ukraine um den Korridor, um die Landversorgung der russischen Flottenverbände auf der Krim, also um den einzigen eisfreien Zugang. Und im Kosovo um die größte NATO-Basis in Südosteuropa. Und im nicht mehr existenten Syrien samt expandierendem IS um die noch Jahrzehnte andauern werdende Aufteilung des Landes vor allem zwischen den Iranern und den Saudis.
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