Und auch wenn man meint, dass der Sozialstaat, den wir in hohem Maße heute nach wie vor Kreisky verdanken, etwas völlig anderes sei als das, was Kohr im Sinne hatte, so ist auch dies sicherlich keine ausgemachte Sache. Denn Kohr ist nicht mehr befragbar. Es könnte also sehr leicht sein, dass ausdrücklich der Kreiskysche, autonome, autarke Sozialstaat des neutralen Österreich von Kohr gerade heutzutage als vorbildliches Beispiel für Small is beautiful genannt würde.
Sei dem, wie es sei: Von Kohr weiß man nur, was aus dem Nachlass veröffentlicht wird. Mich wundert beispielsweise, dass es bislang keine veröffentlichten Tagebücher gibt und keine veröffentlichten Briefe. Die beiden Biographien zu Kohr, verfasst von jemandem mit vielen Berufen, unter anderem dem eines Behindertenlehrers, sind zweifellos für jeden Lesenden, jede Lesende interessant und inspirierend, die neuen Übersetzungen der Kohrschriften sind das ebenso. Aber trotzdem: War das seit 1994 schon alles aus dem Nachlass? Kommt da seit 1994 nichts Neues dazu aus dem Nachlass? Der mehr als lobenswerte Kohr-Biograph schafft zwar seit 20 Jahren Ausblicke noch und noch. Und alles, was es an großen Alternativnamen gibt, steht in den beiden Biographien.
Überallhin gibt es seitens Kohrs und seines umtriebigen Biographen Verbindungen oder könnten Kohrs Ideen sinnvoll Verwendung finden. Wahrscheinlich ist es aber kein Zufall, dass eines der wichtigsten Interviews mit Kohr von Günther Nenning geführt wurde, der ein Faible für Erzherzog Johann hatte und von sich selber sagte, er sei ein Rotgrünhalbschwarzer. Das wird nun einmal auch auf Kohr zutreffen. Ein Rotgrünschwarzer. Ob einem das gefällt oder nicht. Wogegen Kohr sicherlich gut war, sind, wie gesagt, Feindschaften, und wofür er gut war, sind Freundschaften. Dass man jedoch gar das Wort Solidarität auch nur ein einziges Mal beim publizierten Kohr findet, bezweifle ich.
Aber man kann Kohr trotz all dem als Maßstab nehmen. Und dieser Maßstab Kohr misst, dass sich die ÖVP spätestens ab 1999, aber wohl auch schon seit 1994/95, in Wirklichkeit niemals an Kohr gehalten hat. Denn sonst wären wir in Österreich nicht in einer solchen Situation wie jetzt. Die ÖVP hat sich übrigens in den letzten 15, 20 Jahren auch nie an den von ihr propagierten Österreicher Karl Popper und dessen offene Gesellschaft gehalten. Denn dann hätte der Neoliberalismus in Österreich keine Chance gehabt, und zwar obwohl Popper bekanntlich kein Linker war. Weder die deklarierten Kohr-Anhänger noch die deklarierten Popperianer haben in den letzten 15, 20 Jahren in Österreich etwas Nennenswertes gegen den Neoliberalismus unternommen. Für die Popperianer gilt das auch weltweit. Zwar auch hat der angeblich finanzgeniale Wohltäter und Stifter George Soros sich stets weltweit auf Popper berufen, aber gehalten hat er sich nicht an Popper. Sondern Soros hat gegen alle wirklichen Regulierungen der Finanzmärkte gerade dann Stellung genommen, wenn es wirklich darauf ankam. Gegen die Börsentransaktionssteuer war Soros z. B. Und der Hedgefondsbetreiber Soros war vor allem stets gegen alles, was Hedgefonds in ihrer Macht eingeschränkt hätte. Schwarz jedenfalls beruft sich seit jeher auf Kohr und vor allem auf Popper, Schwarz hat sich aber nie an die beiden gehalten. Mit anderen Worten: Schwarz hat mittels Popper und Kohr betrogen. Mit zweien also, die selber gewiss keine Betrüger waren.
Leopold Kohr hatte in der Schule mit Griechisch die größten Schwierigkeiten und man empfahl von Schulseite daher seinem Vater, einem Arzt, Kohr doch besser Schlosser lernen zu lassen. Später dann freilich war für Kohr Griechenland, waren insbesondere die kleinen griechischen Stadtstaaten mit ihren kleinen Philosophen, waren also sozusagen die Devianzler die unversiegbare Schatzquelle, aus der er beständig seine historisch-anekdotischen Beispiele für Autonomie und Autarkie, also für Unabhängigkeit und Selbstversorgung, schöpfte. Ob Kohrs Überlegungen fürs heutige Griechenland eine Hilfe sein könnten oder etwa gar für die spanischen Podemos-Leute, scheint mir persönlich aber mehr als fraglich, obwohl Kohr seinen Anarchismus ja angeblich bei den spanischen Anarchisten gelernt hat. Wenn ich – Schmäh ohne – beispielsweise ein Augustin-Exemplar durchblättere oder Robert Sommers jüngstes Büchl Wie der Rand am Rand bleibt oder die mehr als ein Vierteljahrhundert alte Aktionsradius-Augarten-Büchlbroschüre Vom Grund. Stadtteilarbeit im Wiener Augartenviertel , lerne ich persönlich mehr daraus, als wenn ich in Kohrs Büchern vertieft lese. Zugleich aber gehe ich jede Wette darauf ein, dass genau das im Sinne Kohrs ist. Die Sache ist meiner Meinung überhaupt ganz einfach: Kohr war fürs Leben und Leben-Lassen und gegen alles Aufgeblasene. Man sollte ihn selber also auch nicht aufblasen. Seine Grunderkenntnis ist wertvoll genug.
Dass sie sowohl rechts als auch links und alternativ verwendet wurde, in Österreich weit mehr rechts als links, sollte nicht vergessen machen, wohin Kohr eigentlich gehört, nämlich nach Cuernavaca. In die mexikanische Stadt des, wie man sagt, ewigen Frühlings, die indianisch übersetzt Bei den Bäumen heißt und in der Ivan Illich und zum Beispiel auch Paulo Freire und vor allem auch Erich Fromm gelebt und gewirkt haben. Zusammen. Kohr war meines Wissens zwar nie selber dort und in den Büchern von Kohr und über Kohr kommen Cuernavaca und vor allem der linke Sozialpsychologe Erich Fromm mit seiner ständigen individualmenschlichen Grundentscheidung zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Tod zwar nie vor. Aber das heißt vielleicht bloß, dass das wirklich Sozialpsychologische und das wirklich Linke und das wirklich Brauchbare und das wirklich Befreiende des Leopold Kohr bislang noch immer unerforscht sind.
Für demonstrierende Studenten allerdings scheint Kohr nicht viel übrig gehabt zu haben, die sollten, meinte er in etwa, stattdessen studieren und etwas arbeiten. Ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat. Jedenfalls hat er andererseits auch geäußert, dass man Unizugänge nicht sperren, sondern für die vielen Studierenden viele neue kleine Unis bauen solle. Und zu den Studierenden hat er gesagt, sie sollen sich nicht für Machtpositionen interessieren, weil die Macht eben nichts wert sei und dumm mache.
Was vom bereits erwähnten Staatsroman Kohrs im Nachlass vorhanden ist, darüber schweigen wie gesagt offensichtlich die Nachlassverwalter. Und so inspirierend wie gesagt die Übersetzungen und Biographien zu Kohr auch sein mögen, mitunter stimmt was nicht. Zum Beispiel wenn Kohr Gutmensch gesagt haben soll. Hat er sicher nicht. Darauf wette ich. Als das Wort aufkam, war er selber nämlich schon ein paar Jahre tot und war sein aus dem Englischen jetzt seit wenigen Jahren neu übersetztes Schriftstück, in dem er das Wort Gutmenschen verwendet haben soll, im Original schon Jahrzehnte alt. Und auch dass Kohr die ideale Größe von Staaten mit maximal 8 Millionen Einwohnern beziffert haben soll, wie sein Biograph einmal schreibt, stimmt so nicht: die maximale Kohrzahl lautet in Wahrheit vielmehr 15 Millionen. Österreich ist daher wie gesagt ein Kohrscher Ideal- und Optimalstaat. Den Möglichkeiten nach. Nach wie vor. Obwohl die von Kohr dazumal als vorbildlich genannten, Österreich ähnlichen, Kleinstaaten wie die Schweiz, Liechtenstein oder Luxemburg inzwischen vor Wirtschaftskriminalität strotzen und gleichsam als zentraleuropäische Karibikinseln des Finanzverbrechertums gelten.
Ausgerechnet beim die von Kohr bewunderte Schweiz nicht ertragenden Schweizer Managerkritiker und Whistleblower Hans Pestalozzi übrigens kann man viel von dem realisiert finden, was Kohr und Fritz Schumacher gesagt, gemeint, gewollt und probiert haben. Und zwar gründlicher als Kohr und Schumacher ist Hans Pestalozzi die Sache angegangen. Und hat auch ins Gras gebissen dabei. Das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002 tat das auch. Trotz 717.000 Unterschriften. Und zwar musste es deshalb ins Gras beißen, weil es im Parlament nicht behandelt wurde. Und zwar deshalb wurde es nicht parlamentarisch behandelt, weil infolge von Haiders Knittelfelder Putsch die österreichische Regierung und das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben wurden. Und vor allem auch deshalb nicht, weil der rote damalige Nationalratspräsident, das jetzige Staatsoberhaupt, ein Verfassungsjurist, darauf vergaß oder es unterließ, einen Beharrungsbeschluss zu fassen. Daher nützte das sehr wohl erfolgreiche Sozialstaatsvolksbegehren – ganz genau so, wie der schwarze Lopatka in Graz-Mariatrost vorausgesagt hatte – nicht viel.
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