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[...] Triage. Eigentlich heißt das bloß Ausschuss, z. B. beim Kaffee. Aber es sind Menschenleben. Triage: Man hilft in Katastrophensituationen, bei akutem Ressourcenmangel der Helfer denen, die noch am ehesten eine Chance haben. Triage: Zuerst die, die nicht mehr schreien, dann die, die schreien, dann der Rest. Diese Regel gibt es auch. Aber die ist sehr schnell für Arsch und Friedrich. Der Sozialstaat ist dafür da, dass es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht. Der Sozialstaat ist also das Gegenteil von Triage und Selektion. Die Regel Leben gegen Leben muss nicht angewendet werden. { Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman , III 523}
Tag, Monat, Jahr
Wäre ich Kulturstadtrat, würde ich sofort jeglichen Alkoholkonsum bei Kulturveranstaltungen unterbinden. Und zwar bloß, weil ich wissen möchte, was dann geschieht. Also, was von der Kunst und vom geistigen Leben übrig bleibt. { Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman , III 428}
Schlussworte wie folgt: Dem Sozialstaatsschuber, meinem, wurde im jahrelang behinderten Entstehen und natürlich erst recht nach Erscheinen wiederholt vorgeworfen, er sei voller Wiederholungen; end- und ausweglosem Leid; Leuten, die man sich weder merken kann noch merken mag, allein ihrer Anzahl wegen, und schon gar nicht aufgrund ihrer Charaktereigenschaften. Und ein Schlüsselroman sei das Ganze auch noch dazu. Für so etwas wie meinen Sozialstaatsroman brauche man sohin einen Waffenschein. Der Sozialstaatsroman , meiner wie gesagt, sei irgendwie gemein, denunziatorisch, hinterhältig, verleumderisch, sogar irgendwie erpresserisch. Was darin wahr sei, sei überdies überhaupt ungewiss, weil nicht auszumachen. Und er und ich seien auch nicht zitabel. Ein furchtbares Buch, trist, verhängnisvoll, entbehre jeglicher Utopie und des Trosts. Vor allem: Was im Sozialstaatsroman berichtet werde, sei überhaupt nichts Neues, sondern kenne und wisse man ohnedies. Er sei also eigentlich uninteressant. Zumal eigentlich auch schlecht geschrieben; für ihn gebe es also weder Markt noch Publikum noch sonst woher Geld. Unerträglich, unleserlich und gewiss unverkäuflich sei er. Und bewirken und ändern könne er sowieso nichts und man selber tue im Leben und Beruf außerdem sowieso, was man nur könne, seit jeher und jeweils immer. Ich übertreibe nicht, sondern ziemlich so in etwa 1:1 wurde zu mir geredet verschiedensterseits. Mit Verlaub, ich habe Glück gehabt. Und der Sozialstaatsroman handelt eben von Menschen, die Glück gehabt haben. Von im Stich Gelassenen, die plötzlich doch ein Leben hatten, da Menschen, die ihnen halfen, wirklich halfen, verlässlich. Und andererseits berichte ich von denen, die zugrunde gegangen sind, weil niemand da war in wichtigstem Augenblick und wichtigster Zeit.
Worum ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, bitte, falls und sofern das von mir Ihnen Vorgelesene Ihrem Innenleben oder Ihrer Denkungsart irgendwie konveniert, ist: im Sozialstaatsschuber, im Register, unter Seppi und Günther nachzuschauen und sodann an den dort genannten Stellen. Seppi war mein Volksschulfreund und man hat ihm sukzessive und fälschlich Intelligenz und Lebensfähigkeit abgesprochen und ihn mit knapp über 20 Jahren in ein Altersheim, Pflegeheim gegeben. Und sein ihn liebender Bruder, herzensgut, fleißig, hilfsbereit und erschöpft, hat sich mit knapp über 50 Jahren in der Mur ertränkt. In der Folge. Vom Leben der beiden z. B., von dem, was sie versucht und worauf sie sich gefreut hatten, berichte ich. Auf Günthers Grab sitzt im Übrigen ein halbhandkleiner kitschiger weißer Engel, aus einem weißen Buch vorlesend. Kann leicht sein, der liest ihm vor, was die vorgeblichen Bildungs- und Hilfseinrichtungen samt exekutierendem Personal den beiden Brüdern verwehrt und unterschlagen haben. Der Sozialstaatsroman erzählt tatsächlich von tatsächlichen Menschen, denen de facto die Lebensfähigkeit samt Leben abgesprochen wurde und das Bewusstsamt dem Menschsein. Einer Frau z. B., von der es hieß, sie werde nicht überleben und wenn, dann ohne jegliche höhere geistige Funktion und Fähigkeit. Nichts davon war dann wahr. Zum Glück. Von diesem Glück z. B. erzähle ich. Wie darum gekämpft wurde. Von Menschen. Und wie es dann wirklich da war. Und so weiter und so fort. Der Sozialstaatsroman hat, nebstbei gesagt, vielleicht deshalb seine 1.200 Seiten, weil er von vielleicht 1.200 Menschen Bericht gibt. Solchen und solchen. Das Zweite jedenfalls, worum ich Sie, sehr verehrte Damen und Herren, bitte, ist: Wiederholen Sie jetzt endlich das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren! So schnell wie Ihnen jetzt nur irgend möglich! Der Zweiten Republik ist, kommt mir vor, nicht viel eingefallen, das dermaßen vernünftig war wie das Sozialstaatsvolksbegehren. Im Jahr 2002 war das und wesentlich im Bemühen verbunden unter anderen mit dem Arzt und Pflegeanwalt Werner Vogt, dem Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, der Frauenministerin Johanna Dohnal. Und, was die Wenigsten wissen, mit dem Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftler Pierre Bourdieu. Für ganz Europa hatte der so etwas vor. Sozusagen Österreich statt Katastrophe. (Wie auch immer.) Tun Sie es einfach! Bitte! Wiederholen Sie’s! Ah ja, und wenn Sie gerade dabei sind: Warum gibt es da hier kein Schulunterrichtsfach, das Helfen heißt? Installieren Sie es einfach. Bitte! Und im ORF ein fixes Friedensforschungsformat, Friedensprogramm, z. B. jede Woche 2 Stunden.
Mein Sozialstaatsroman , das sei noch gesagt, ist kein Schlüsselroman; der Schlüssel lautet vielmehr einzig wie folgt, nämlich: Menschen sind gut und klug, wenn man sie es sein lässt, und Systeme sind änderbar, wenn man sich ihrem Verhängnis nicht fügt. Sie würden, sehr geehrte Damen und Herren, würden Sie in den Sozialstaatsschuber schauen, keinen einzigen Menschen finden, niemanden, nicht unter den Opfern, nicht unter den Tätern, der nicht Entkommen und wirklichen Ausweg selber sich wünscht und selber benennt und selber versucht.
Wenn wir sprechen, sehr geehrte Damen und Herren, sind wir, kommt mir vor, wie Affen, die von Baum zu Baum springen. Sind unsere Sätze falsch, unser Satzen eben, sind wir auf der Stelle tot oder bald. Durchs Reden also, Sie und z. B. ich, lassen wir unsere Fehler, falschen Sätze eben, an unserer Stelle sterben. Ersparen uns so Leid und Tod. Könnten. Den anderen Leuten auch. Der Sozialstaatsroman jedenfalls besteht aus solchen Sätzen. Aus Situationen und Menschen besteht der und was die tun mit welchen Folgen. Schicksalhaften. Und eben diese werden durchbrochen. Fehler sind wiedergutmachbar. Jeder hat eine 2. Chance, ein 2. Leben. Mindestens.
Weltmaschine Graz. Festival Literaturhaus Graz und steirischer herbst ’19
Intervention 26. Juni 2019
Sofort springen Frösche, wenn man sie ins kochende Wasser wirft, wieder heraus aus dem Wasser. Aber wenn man ihnen, heißt’s, das Wasser peu à peu erhitzt und die Grade auf der Skala langsam, langsam nur, langsam ansteigen lässt, lassen die Frösche sich allesamt problem- und widerstandslos kochen. Dabei steigen die Frösche die Froschleiter immer höher hinauf und zum Schluss eben sind sie gar. (Mehr war nicht, mehr ist nicht.) Inhalt und Handlung von Bourdieus Die feinen Unterschiede sind einmal so ausgelegt worden. Österreichisch. Als Analyse des langsamen Eingekochtwerdens. Sohin als Beschreibung und Erklärung dessen, was dazu bringt, die Leiter hinaufzuwollen und -zukommen, sozusagen sich hinaufzuretten, anstatt dem Kesseltreiben schnell und ohne Zögern zu entfleuchen. Also sich herauszuretten.
Ebenfalls auf Österreichisch wurden Bourdieus Überlegungen zu Herrschaft, Macht und Gegenmacht allesamt einmal wie folgt kommentiert: Es gehe unter Erwachsenen durchaus zu wie in Schulklassen. Mitunter hole da dann eben der Lehrer den störendsten Störenfried oder die aufrührerischste Aufrührerin zu sich heraus oder herauf und sage zum Störenfried oder zur Aufrührerin, er, sie soll die Klasse übernehmen. Jetzt. Die Verantwortung also oder was auch immer. Die Macht halt. Und da dann steht oder sitzt der Störenfried oder die Aufrührerin der Klasse, der Masse perplex gegenüber und wisse preisgegeben, isoliert und ausgeliefert nicht, was tun. Die gegenwärtige linke Parteipolitik und die gegenwärtigen linken Protestbewegungen seien so: Wenn ein kleiner frecher Empörer, eine kleine muntere Empörerin von unten und draußen in eine gewisse Machtposition komme, wisse er oder sie eben nicht, was tun, und tue dort dann alles in allem dasselbe wie alle anderen dort sonst auch. Und Bourdieus Kunstsoziologie, die, die wurde auf Österreichisch einmal mit der simplen Frage quittiert, ob Bourdieu die Dirigenten als unnötig abschaffen wolle.
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