Beispiel 2: Von Befreiungstheologen – die gibt’s wirklich noch und wieder und die werden auch, sagt man, zusehends mehr an Zahl und Rang – ist Pierre Bourdieu soeben jüngst auch entdeckt und in Verwendung genommen worden. Und zwar um eine Befreiungstheologie für Europa aufzubauen. Eine europäische Befreiungstheologie! Ein, vor Jahrzehnten zuerst und zuvorderst von Arbeiter- und Armenpriestern ausgesprochenes, Grundprinzip jeglicher Befreiungstheologie lautet ja bekanntlich: Sehen, Urteilen, Handeln! Dieses Sehen, Urteilen, Handeln! , in gewissem Sinne das Gewissen, wird nun jetzt von den Befreiungstheologen mit Bourdieus Elend der Welt und mit den Feinen Unterschieden in Kombination gebracht, insbesondere mit dem Habitusbegriff. Denn der Habitus – das sind ja eben die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, also just Sehen, Urteilen und Handeln (und zugleich aber deren Beschränktheit, Unfreiheit; das Eingesperrtsein im Körper, im Gehirn, in der Lebenswelt). Ein Grundwerk der Befreiungstheologie in der Dritten Welt stammt bekanntlich von einem Österreicher. Von Adolf Holl. Jesus in schlechter Gesellschaft . Ein anderes Werk Holls, Die linke Hand Gottes. Biographie des Heiligen Geistes , gehört, habe ich mir sagen lassen, zu den Lieblingsbüchern des österreichischen Jungbischofs Glettler. Bruno Kreiskys Lieblingsbuch, nebstbei bemerkt, soll Holls Kinder- und Jugendbuch Wo Gott wohnt gewesen sein. Wie auch immer, der seiner sakralen Befugnisse enthobene Priester Holl hat vor 20 Jahren eine Mischung aus Burleske, Krimi, Liebes- und Religionsgeschichte verfasst, die sogar im Vatikan Freunde gefunden haben soll, nämlich Falls ich Papst werden sollte . Als der neue Papst Franziskus eingesetzt wurde, ging sogar das Gerücht, Hollywood wolle auf der Stelle Holls Papstbuch verfilmen. In besagtem amüsanten kleinen, kompakten Werk jedenfalls nimmt sich Papst Holl Pierre Bourdieu zum Berater. Der Feinen Unterschiede wegen. Sozusagen weil Religion Geschmackssache ist. Und auch, weil für Bourdieu Gott irgendwie die Gesellschaft ist.
Beispiel 3: Elisabeth List, die Energische, stets Streitbare, die Grazer feministische Philosophin, im ersten erlernten Beruf Volksschullehrerin, seit langem nun mit schwerer Krankheit zu kämpfen habend und den Rollstuhl oft als Freiheit erlebend, als Befreiung vom Krankenlager nämlich, betrachtete Anfang dieses unseres 3. Jahrtausends da hier Bourdieus Einmischungsbuch in die Feminismen dieser Welt -– Die männliche Herrschaft – mit beträchtlicher Mentalreservation. Das sei so alles nichts Neues unter der Sonne. Und stimmen tue es so auch nicht wirklich. Das gelte sowohl für Bourdieus Verständnisse von Liebe als auch für seine Resümees der Frauenbewegung. Alles nichts Neues von Bourdieu. Und auch nicht wirklich hilfreich. Die Frauenleben in Bourdieus Elend der Welt freilich interessierten List sehr wohl und weit mehr, also die junge Polizistin dort zum Beispiel oder die kleine Geschäftsfrau im rabiaten Problemviertel oder die entlassene Sekretärin oder die müde Postangestellte oder die pensionierte Sozialarbeiterin im Altersheim, verzweifelte, oder die Psychologievokabeln studierende, sich davon endlich Hilfe erhoffende Schullehrerin oder die junge Migrantin und ihre Mutter oder die abservierte Frauenhausleiterin oder die Putzfrau mit Schulden und schwer krankem Mann – und so weiter und so fort. Die Lebenskonstellationen, Bewältigungsversuche dieser Frauen solle man doch aus Bourdieus Elend der Welt gleichsam herauslösen und mithineinpublizieren in Bourdieus Die männliche Herrschaft , meinte List dazumal. Letztgenannte Schrift gewänne dadurch beträchtlich an Nutzen und Verständlichkeit. Wäre nicht mehr so umständlich. Und wäre auch realpolitisch weit relevanter. Und einmal dazumal meinte List, dass man vielleicht wirklich, um die Gegenwart und das, was bevorstehe, zu verstehen, Bourdieus Herrschaftsanalysen insgesamt gedanklich flugs den Masken der Niedertracht assoziieren sollte, also dem weltweiten Bestund inzwischen Longseller der französischen Viktimologin Hirigoyen. Diese vertritt ja die Überzeugung, dass gegenwärtig die Politik, die Unternehmen, die Betriebe, die Familien, die Mafia und unsere Gesellschaft als ganze zunehmend ident funktionieren. Nämlich derart, dass sie Menschen in ihrem Alltag dazu bringen, zu belügen, zu quälen, zu demütigen. Die narzisstisch Perversen, die malignen Narzisse, die im jeweiligen großen oder kleinen System Machthabenden eben, lösen eine Katastrophe aus, die sie dann, sich selber als Retter aufspielend, den erschöpften Opfern anlasten. Und während eben die Peiniger sich selber als Retter aus der Not geltend machen, müssen die Opfer den Peinigern allein schon dafür dankbar sein, dass diese die Tortur endlich beenden. Oder wenigstens zwischendurch unterbrechen. Die Widerstandsfähigkeit eines Menschen ist nun einmal nicht unbegrenzt, sondern erschöpft sich. Und der maligne Narziss andererseits, der perverse Aggressor, der jeweilige große und kleine Machthaber, gibt seinen permanenten Kampf nur dann auf, wenn das Opfer ihm zeigt, dass es sich von nun an nichts mehr gefallen lassen wird. Das sei das Einzige, was hilft – öffentlich und wahrheitsgemäß und so schnell wie möglich zu sagen, was gerade geschieht; was angetan wird. Den Blick, die Gesten und die Wörter des Peinigers, die das Opfer verinnerlicht hat, muss das Opfer so schnell wie möglich wieder losbekommen. Das sei die erste und wichtigste aller Revolten. – Bei Bourdieu nun findet sich tatsächlich genau dasselbe als Grundwahrheit festgeschrieben, nämlich dass man sich selber ja nie mit den Augen der Herrschenden sehen dürfe. Ja nicht sich selber mit den Augen der Herrschenden sehen! Und ja nicht über dasselbe reden wie die Herrschenden und ja nicht auf dieselbe Weise reden wie diese! Sondern immer gerade das reden, worüber nicht geredet wird; das sagen, was gerade nicht gesagt wird.
Was List bei ihren für sie existenziellen Arbeiten über das Selbstverständliche und über das Lebendige immer interessiert hat, in Besonderheit an Bourdieu, ist der Habitus-Begriff. Dass Habitus so viel bedeutet wie die Hirngrenzen eines jeweiligen Menschen, aus denen er nicht herauskann; seine Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Gefühls-, Werte- und Handlungsschemata, in denen er eingesperrt ist. Worden ist. Was List einmal, im Jahr 2000 war das, zirka halb spaßig, halb ernstlich gleichsam in Auftrag gegeben hat, ist eine Art handliches kleines Habitus-Wörterbuch à la Fremdsprachen-Langenscheidt; eine jederzeit greifbare verlässliche Übersetzungshilfe, ein Bestimmungsbuch, Menschenbestimmungsbuch. In dieser Handreichung, Verständigungshilfe von Mensch zu Mensch, von Menschengruppe zu Menschengruppe solle gleichsam drinnen stehen, was ein Mensch denkt, empfindet und so weiter und aber eben auch das, was er nun einmal nicht kann, und aber eben auch das, was er sich wünschen würde. Das einem Menschen Zumutbare also und das ihn Überfordernde sollen drinnen stehen. Mit diesem Menschenbestimmungsbuch könnte man ansonsten Schicksalhaftes wirkungslos und unschädlich machen. Die sozialen Bestimmungen eben mit all den Folgen, Situationen, Abläufen, Zwängen, Gewalttätigkeiten, erlernter Hilflosigkeit. Besagtes Habituswörterbuch solle aber ja elementar und klein gearbeitet sein, sozusagen für kleine Leute, und z. B. sowohl für Zugewanderte als auch Hiergeborene. Und eben ja ganz konkret gegen die konkreten Missverständnisse, Probleme und Konflikte zwischen den verschiedenen Schichten, Milieus, Klassen gut soll es sein, das Wörterbuch. Interkulturell wie gesagt sowieso. Aber eben innerhalb der eigenen Kultur solle es auch interkulturell sein, weil ja z. B. jede Schicht, jedes Milieu eine eigene Kultur hat und ist. Die feinen Unterschiede und Das Elend der Welt hat List somit in eine Art kleine Fibel für den Elementarunterricht und als Art österreichisches Wörterbuch, Schulwörterbuch, für den alltäglichen zwischenmenschlichen Gebrauch gezielt umzubauen vorgeschlagen. Anfang unseres Jahrtausends wie gesagt hatte sie das im Sinn. Als Handreichung eben gegen zwischenmenschlichen Schmerz und Stress. Ein Wörterbuch der gegenseitigen Hirngrenzen wie gesagt. Was List da an Bourdieu dazumal wirklich interessierte, an den Feinen Unterschieden genauso wie am Elend der Welt , ist eben das Selbstverständliche, Lebendige, Existenzielle, Lebensweltliche, Übersetzbare. Die Grundforderung des Norbert Elias ist das bekanntlich, nämlich: Wir haben nur eine Aufgabe: Mit Menschen freundlich zu leben . Das Wichtigste, meinte List, sei jetzt eben die Psychologie, Sozialpsychologie, die Psychologie der Solidarität. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, jede nach ihren Fähigkeiten, jeder nach ihren Bedürfnissen . Jede Sozialbewegung, die das nicht vermag, gehe und sei verloren. So einfach sei das: Entweder gemeinsam oder kaputt. Unter Garantie habe Bourdieu das auch so gesehen, sonst wäre er ja blöd gewesen.
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