»Er ist mir auch vorher schon nützlich gewesen«, gab Roby zu, »aber ich hätte nie gedacht, daß er mir einmal zu einer so unglaublichen Chance verhelfen würde.«
»Ja, unglaublich ist das richtige Wort!« rief Tila begeistert. »Und nun, da Mister Wickham unser Mieter ist, werden wir ins Dower House umziehen.« Sie lächelte und fuhr dann fort: »Ich habe für das kleine Haus immer geschwärmt, und es befindet sich längst nicht in einem so heruntergekommenen Zustand wie das Haupthaus. Natürlich werden wir die schönsten Sachen von Mama mitnehmen, einschließlich der Möbel aus diesem Zimmer.«
Weil sie so aufgeregt war, klang ihre Stimme zum ersten Mal nach langer Zeit beschwingt und unbeschwert. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihr Bruder sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen anschaute.
Doch er schwieg, und nach einem Moment des Abwartens, fragte sie: »Was ... was ist?«
»Ich glaube, in dieser Welt ist nichts wirklich - vollkommen«, erwiderte er zögernd, »und deshalb ist an alles, was ich dir genannt habe, eine Bedingung geknüpft.«
»Eine Bedingung? Was für eine Bedingung?«
»Ich fürchte eine, die dir nicht gefallen wird«, antwortete Roby unbehaglich.
Tila ließ sich wieder in ihren Sessel sinken.
»Was ist es?« fragte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Mister Wickham irgend etwas Verbotenes oder Unmögliches von uns verlangen könnte.«
»Es ist nicht Mister Wickham.«
»Nein? Wer dann?« Tila sah, daß ihr Bruder nach Worten suchte, bevor er gestand: »Patrick hat die Sache nicht allein arrangiert, sondern zusammen mit einem Mann aus New York, mit dem er auch vorher schon Geschäfte gemacht hat.«
»Ich... ich verstehe nicht.«
»Ich will versuchen, es dir zu erklären«, gab Roby gereizt zur Antwort. »Aber es ist nicht so einfach.«
»Warum nicht? Was stimmt nicht?«
»Um die Wahrheit zu sagen, ist Patricks Freund sehr daran interessiert, Partner von Wickham’s Enterprises oder - wenn du willst - Investments zu werden, die so erfolgreich sind.«
»Und weshalb bittet er Mister Wickham nicht, ihn zu seinem Partner zu machen?« fragte Tila.
»Offensichtlich arbeitet Wickham stets allein, legt keinen Wert auf Partner oder darauf, sein Wissen als Börsenfachmann mit anderen zu teilen.«
Tila blickte verwirrt, und Roby fuhr mit leicht belegter Stimme fort: »Was dieser Freund von Patrick will, ist, daß jemand in der Zeit, die Wickham auf Staverly wohnt, die Augen offen hält. Und sobald erkennbar wird, was Wickham als nächstes zu unternehmen gedenkt oder - mit anderen Worten - wo er sein Geld anzulegen plant, soll er Patrick unverzüglich darüber informieren.«
»Das hört sich ziemlich kompliziert für mich an«, erwiderte Tila. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie du jemanden finden willst, den Wickham nicht kennt und dennoch in seiner Nähe duldet. Einen Diener wird man ja wohl mit dieser Aufgabe nicht betrauen können.«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ihr Bruder. Dann räusperte er sich mehrmals, bevor er fortfuhr: »Und deshalb habe ich Patricks Vorschlag zugestimmt, der meint, die einzige Person, die überhaupt für eine solche Aufgabe in Frage kommt, bist du.«
»Ich?« stieß Tila hervor. »Und - was soll ich tun?«
»Das versuche ich dir schon die ganze Zeit zu sagen«, antwortete Roby, »aber du hörst ja nicht auf, mir ständig neue Fragen zu stellen.«
Tila hielt die Bemerkung für ziemlich unfair, enthielt sich jedoch jeder Kritik. Statt dessen verschränkte sie die Hände ineinander und hob das Gesicht zu ihrem Bruder empor.
»Clint Wickham hat eine Tochter«, sagte er langsam.
»Du hast mir gar nicht gesagt, daß er verheiratet ist!« rief Tila vorwurfsvoll, bevor er es verhindern konnte.
»Er ist Witwer. Seine Frau starb vor vier Jahren, und seine Tochter ist sieben.«
Eine Pause entstand, und als Tila nicht sprach, fuhr Roby fort: »Einer der Gründe, weshalb er für seinen Aufenthalt in England ein großes Haus wünscht, ist der, daß er seine Tochter mitbringt und Patrick ihm versprochen hat, eine Gouvernante für sie zu finden.«
Schweigen.
Tilas Augen weiteten sich, und nur mit Mühe hielt sie die Bemerkung zurück, die ihr auf der Zunge lag.
»Und weil sich Patrick auf diese Person verlassen können muß«, fuhr Roby fort, »wirst du, Tila, die Gouvernante von Wickhams Tochter sein.«
Tila starrte ihn mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen an. Dann sagte sie: »Was du also eigentlich sagen willst, ist, daß ich für dich und deinen Freund Patrick die Spionin machen soll, nicht wahr?«
Sie schwieg einen Moment und fügte dann heftig hinzu: »Die Antwort darauf lautet nein, definitiv nein. Wie könnte ich jemals etwas Derartiges tun!«
Roby machte eine abwehrende Handbewegung. Dann durchquerte er das Zimmer, trat ans Fenster und blickte lange Zeit schweigend nach draußen.
»Es tut mir leid, Roby«, sagte Tila schließlich, »aber du weißt, es ist etwas, das Mama niemals geduldet hätte - und... und außerdem würde ich die Sache sowieso verpatzen.«
Erneut folgte ein langes Schweigen.
Dann gab sich Roby einen Ruck und erklärte mit ausdrucksloser Stimme: »Na gut, dann werden wir die ganze Geschichte vergessen müssen, und ich kann nur hoffen, daß es dir auch weiterhin gelingt, dich hier ohne Geld und finanzielle Mittel über Wasser zu halten.«
Tila wollte etwas erwidert, aber Roby fuhr, ohne sich zu ihr umzudrehen, fort: »Leider gab mir Patrick bereits eine Anzahlung von tausend Pfund. Fünfhundert habe ich für mich behalten, und die anderen fünfhundert wollte ich dir geben.«
»Fünfhundert - Pfund«, flüsterte Tila kaum hörbar.
Der Gedanke war geradezu unfaßbar für sie, plötzlich so viel Geld zu besitzen.
Das Erste, was sie damit tun würde, wäre, den Coblins den ausstehenden Lohn zu zahlen. Fast ein ganzes Jahr hatten sie keinen Penny mehr von ihr gesehen.
Und für Kingfisher würde sie einige Sack guten Hafer kaufen. Denn der eigentliche Grund für seine Kraftlosigkeit und Schwäche lag nämlich nicht in seinem Alter, sondern darin, daß er schon lange kein vernünftiges Futter mehr bekommen hatte.
Die Coblins dagegen sorgten sich nicht nur um die tägliche Nahrung, sie lebten auch in der ständigen Angst, das Haus könnte geschlossen werden. In dem Fall würden sie buchstäblich auf der Straße liegen, und es gab für sie keinen anderen Platz mehr auf der Welt als das Armenhaus. Sie wußten ja besser als jeder andere, daß Roby kein Geld besaß, um ihnen eine Altersrente zahlen zu können. Selbst wenn sie irgendwo ein halbzerfallenes Häuschen fänden, ohne Geld würden sie nicht darin leben können.
Fünfhundert Pfund! Sie hatte das Gefühl, als erschiene die Summe in flammenden Lettern auf der gegenüberliegenden Zimmerwand.
Fünfhundert Pfund! - Wenn Roby nicht vorsorglicherweise einige Lebensmittel mitgebracht hätte, wäre heute Abend nichts, aber auch gar nichts zum Dinner dagewesen.
Sie blickte zu ihrem Bruder hinüber, der ihr immer noch den Rücken zugekehrt hatte. Wie ihr war auch ihm bewußt, was fünfhundert Pfund und das Geld, das diesem Betrag folgen sollte, für sie in ihrer geradezu hoffnungslosen Situation bedeuteten.
Tilas Herz begann zu rasen. Mein Gott, zweitausend Pfund Miete im Jahr, und das Haus wie neu!
Die Gärten und der Park hinunter bis zum See wieder wie in den alten Tagen bestens gepflegt! Der große Küchengarten mit seinen von Mauern eingefaßten Beeten voller Salat und Gemüse! Das wiederhergestellte Gewächshaus voller Weintrauben, Pfirsichen und Kirschen!
Alles würde wieder so sein wie damals, als sie noch ein Kind gewesen war.
Wenn sie nein sagte, wenn sie sich weigerte, etwas zu tun, was in ihren Augen erniedrigend und unverantwortlich war, wer würde schon davon beeindruckt sein?
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