Sie war sicher, daß Coblin zu dieser nachmittäglichen Stunde sein Nickerchen machte. Wie immer würde er in seinem Lehnstuhl in der Küche sitzen, die Füße auf einen Schemel gelegt, und behaglich vor sich hin schnarchen.
Neugierig verließ sie das Wohnzimmer. Dann stieß sie einen freudigen Schrei aus.
Es war Roby, der in der Halle stand. Hinter ihm erkannte sie durch die offene Haustür einen eleganten Zweispänner, der von zwei rassigen Pferden gezogen wurde.
Mit ausgestreckten Armen lief sie auf den Bruder zu.
»Roby, Roby, du bist hier! Wie wundervoll!«
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, und er küßte sie.
»Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen«, sagte er. »Wie geht es dir?«
»Schlecht, bevor ich dich sah«, antwortete Tila. »Weshalb kommst du nach Hause? Ist etwas geschehen?«
»Eine ganze Menge sogar«, erwiderte er vielsagend. »Und ich habe dir furchtbar viel zu berichten. Doch zunächst laß mich Coblin Bescheid sagen, daß er meinem Diener den Weg zu den Ställen zeigt.«
Tilas Augen weiteten sich. Dennoch wußte sie, daß dies nicht der richtige Augenblick war, ihrem Bruder Fragen zu stellen.
Sie ließ Roby stehen und lief den langen Korridor hinunter, der zur Küche führte.
Sie stieß die mit grünem Billardtuch bespannte Doppeltür auf, durch die man vom Gang aus in den Speisesaal gelangte. Dann eilte sie über den mit Fliesen belegten Fußboden und öffnete die Küchentür.
Wie sie erwartet hatte, waren Mrs. Coblin und ihr Mann in den bequemen Armsesseln, die eigentlich ins Schreibzimmer gehörten, eingeschlafen.
Tila zögerte nur einen Moment lang. Sie wußte, wie sehr die beiden ihr Mittagsschläfchen genossen.
Aber Roby war nach Haus gekommen, und das war wichtiger als alles sonst.
Sie berührte Coblin an der Schulter.
»Aufwachen!« rief sie. »Sir Robert ist hier!«
»Ja?« fragte Coblin verschlafen. »Was haben Sie gesagt?«
»Sir Robert... er ist aus London zurück! Und er möchte, daß Sie dem Diener den Weg zu den Ställen zeigen.«
»Sir Robert ist zurück«, murmelte Coblin verschlafen. Während er mühsam aufstand, öffnete seine Frau die Augen.
»Wenn Sir Robert zurück ist, Miss Ottilia...« Sie brach ab, fuhr dann aber fort: »Es ist aber nichts zu essen da, wie Sie wohl wissen.«
Die Coblins nannten sie stets mit ihrem vollen Namen. »Tila« erschien ihnen zu respektlos.
»Wir finden schon etwas«, erwiderte Tila zuversichtlich, »doch lassen Sie mich erst mit Sir Robert sprechen. Ich weiß ja nicht einmal, ob er überhaupt hierbleibt.«
Coblin hatte sich aus dem Sessel erhoben. Er war dabei, seinen Rock anzuziehen, den er über die Lehne eines Küchenstuhls gehängt hatte. Das Kleidungsstück war sehr dünn und fadenscheinig, und an mehreren Stellen geflickt. Doch, nachdem er ihn einmal angezogen hatte, sah er aus wie immer - ein Familienbutler, der die Etikette eines großen herrschaftlichen Hauses souverän beherrschte.
Mit einer Handbewegung glättete er die wenigen weißen Haare, die ihm noch verblieben waren, verließ gemessenen Schrittes die Küche und begab sich mit der gewohnten Würde auf den Weg zur Halle.
Roby wartete dort immer noch. Er betrachtete ein Gemälde, das neben der großen Standuhr hing und eine Darstellung des Hauses war. Es war vor etwa hundert Jahren gemalt worden und stammte aus jener Zeit, in der die großen Umbauten stattgefunden hatten.
Früher hatte Tila es sich oft angeschaut, in letzter Zeit jedoch nicht mehr, weil es sie zu sehr bedrückte. Es erinnerte sie auf schmerzliche Weise daran, daß Staverly längst nicht mehr so aussah wie auf dieser Darstellung.
Er wandte sich erst um, als seine Schwester und Coblin zu ihm traten.
»Guten Tag, Sir Robert«, sagte Coblin.
Tila mußte beim Klang seiner Stimme stets an einen Bischof denken, so würdevoll und feierlich hörte sie sich an.
»Schön, Sie zu sehen, Coblin«, erwiderte Roby. »Würden Sie meinem Diener den Weg zu den Ställen zeigen. Schlafen wird er allerdings im Haus. Wie Sie wissen, ist das Stalldach undicht.«
»Sehr wohl, Sir Robert!« sagte Coblin, ohne seine Überraschung zu verraten.
Er ging zur Haustür und stieg die Stufen hinunter zu dem Zweispänner.
»Wenn du die Absicht hast, mit deinem Diener hierzubleiben, kann ich nur hoffen, daß du etwas zu Essen mitgebracht hast«, sagte Tila. »Im Haus haben wir nämlich nichts - und wenn ich nichts sage, dann meine ich das auch.«
»Ich hab’s schon geahnt«, erwiderte ihr Bruder lächelnd. »Und deshalb habe ich einen Korb mit allerhand leckeren Sachen mitgebracht - angefangen vom Pâté de fois gras bis zur China-Ente.«
Tila schaute ihn an. Der Ausdruck ihres Gesichts war eine Mischung aus Skepsis, Fassungslosigkeit und zaghafter Freude.
»Und von wem hast du das?« wollte sie dann wissen.
»Ich hab’s gekauft.«
Schweigen folgte, dann fragte Tila: »Du machst Scherze, nicht wahr?«
»Nein, und ich habe dir eine Menge zu erzählen«, antwortete ihr Bruder. »Aber laß uns irgendwohin gehen, wo wir uns setzen können. Ich habe nämlich auch eine Flasche Champagner mitgebracht, die ich mit dir trinken möchte.«
»Ich glaube, ich träume!« rief Tila. »Oder bist du über Nacht plötzlich Millionär geworden?«
»So ungefähr«, erwiderte Roby.
»Nun weiß ich, daß ich träume«, antwortete Tila.
Sie ging voraus in den Aufenthaltsraum ihrer Mutter, der fast noch genauso aussah wie zu Lebzeiten der Eltern, denn die französischen Möbel, die darin standen, durften nicht verkauft werden.
Das gleiche galt für die Gemälde, die ihr Großvater nach der französischen Revolution erworben hatte. Er hatte sie ordnungsgemäß als Fideikommiss dem nächsten Baronet vererbt.
Die Sonne schien durch die Fenster, und obwohl die Vorhänge sehr fadenscheinig waren, wirkte der Raum sehr hübsch und behaglich. Noch am Tag zuvor hatte Tila die Blumen in den Vasen erneuert, und die frischen Narzissen und der blaue Flieder verliehen dem Zimmer etwas Frühlingshaftes.
Roby ging zum Kamin, wandte sich um und blieb mit dem Rücken zur Feuerstelle stehen.
Tila schloß die Tür hinter sich, dann sagte sie: »Du siehst sehr elegant aus!«
»Ich dachte, daß du mein neues Jackett schön finden würdest«, sagte ihr Bruder. »Es ist das erste, was ich mir zugelegt habe.«
Tila nahm in einem der Louis-XIV-Sessel Platz.
»Erzähl von Anfang an«, bat sie. »Du mußt wissen, ich sterbe fast vor Neugier.«
»Ich kann mir gut vorstellen, daß du es kaum glauben wirst, was ich dir zu berichten habe«, sagte Roby, »aber unser Geschick hat sich über Nacht gewendet.«
»Aber ... aber wie?« fragte Tila aufgeregt. »Wie kann so etwas denn möglich sein?«
»Ich habe das Haus vermietet«, erwiderte Roby.
»Vermietet? An wen? Und wie kann jemand das Haus in diesem Zustand bewohnen wollen?«
Die Worte schienen aus Tila nur so hervorzusprudeln, und ihr Bruder lachte, bevor er antwortete: »Ich war genauso überrascht wie du, als Patrick O’Kelly mir sagte, was er getan hat.«
Tila hatte ihren Bruder früher schon von seinem Freund Patrick O’Kelly reden hören. Sie wußte, er war der jüngere Sohn des Earl of O’Kelly, eines verarmten irischen Edelmannes.
Sie erinnerte sich, daß Roby ihr erzählt hatte, wie Patrick es verstand, sich bei den verschiedensten Leuten nützlich zu machen. Es war Patrick, der ihm die Einladungen zu den vielen Hausgesellschaften verschaffte, die er sonst nie erhalten hätte.
»Wie kommt Patrick dazu, unser Haus zu vermieten?« verlangte Tila zu wissen. »Und wenn es denn so ist, wer ist bereit, für eine derart heruntergekommene Behausung überhaupt Miete zu zahlen?«
»Genau das hab’ ich ihn auch gefragt«, entgegnete ihr Bruder. »Die Antwort ist höchst einfach - ein amerikanischer Multimillionär!«
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