Barbara Cartland - Bleib bei mir, kleine Lady

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Als Gracila Shering herausfindet, daß ihr Verlobter, der Herzog, in Wirklichkeit ein Verhältnis mit ihrer Stiefmutter hat, sieht sie den einzigen Ausweg aus einer solch schrecklichen Ehe in der Flucht. Gracila findet Zuflucht bei einem alten Diener, der jetzt im Dienst von Virgil, Lord Damien, steht, einem Mann, der von der viktorianischen Gesellschaft wegen seinem skandalösen Verhalten ausgestoßen wurde. Als Virgil unerwartet aus dem Exil zurückkehrt, werden Gracila neue Probleme bereitet, die nur ein Akt der Dankbarkeit der Königin lösen kann.

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Bleib bei mir, Kleine Lady

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2015

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1842

Millet band die grüne Schürze um und machte sich an seine Lieblingsbeschäftigung. Silber putzen war für ihn nicht Arbeit, sondern Entspannung.

Das ewige Geschwätz der Dienerschaft, die ihm unterstand, ging ihm zuweilen ordentlich auf die Nerven, und so hatte er sie allesamt ins Bett geschickt und war froh, mit seinen Gedanken allein sein zu können.

Doch er sollte nicht lange allein sein. Schon nach wenigen Minuten klopfte es an der Tür der Geschirrkammer, und Millet ärgerte sich.

„Wer ist da?“ fragte er.

Die Tür ging auf, und der Nachtwächter, ein Mann, der ebenso alt war wie Millet, steckte den Kopf herein.

„Ach, Sie ...“ Millet schüttelte den Kopf. „Keine Zeit, ich habe zu tun, wie Sie sehen.“

„Da will Sie aber jemand sprechen, Mr. Millet“, sagte der Nachtwächter.

„Mich?“

Ehe Millet fragen konnte, wer es wagte, ihn zu so später Stunde sprechen zu wollen, huschte eine zierliche Gestalt an dem Nachtwächter vorbei und kam in die Geschirrkammer.

Millet traute seinen Augen nicht. Eine Frau? Sie trug einen Schleier über dem Gesicht, und Millet hatte keine Ahnung, wer die Frau hätte sein können.

Als der Nachtwächter jedoch verschwand und die Frau den Schleier vom Gesicht zog, traute Millet seinen Augen erst recht nicht.

„Mylady!“ rief er und stand sofort auf.

„Ich weiß, Mitty“, entgegnete eine junge Stimme. „Mit mir haben Sie nicht gerechnet. Und schon gar nicht so spät.“

„Da sollten Sie auch wirklich nicht mehr unterwegs sein, Mylady.“

Millet holte einen Stuhl aus einer Ecke, wischte den Sitz mit seiner Schürze ab und stellte ihn neben den unerwarteten Gast.

„Nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er.

Das junge Mädchen nahm den Hut und das Cape ab, legte beides auf den Tisch und setzte sich.

Es war, als hätte plötzlich die Sonne Einzug gehalten. Das Licht der Petroleumlampe strich über das goldblonde Haar und schien in den großen, taubenblauen Augen zu verweilen. Die langen, gebogenen Wimpern verliehen diesen Augen den Ausdruck eines Kindes, das mit menschlichen Problemen noch nicht in Berührung gekommen war.

„Sie sind aber doch nicht allein gekommen, Mylady?“ fragte Millet.

Das junge Mädchen lächelte.

„Doch“, antwortete es. „Das heißt, Caesar ist bei mir. Ich habe ihn draußen festgebunden.“

„Sie sind mutterseelenallein durch die Nacht geritten?“ fragte Millet entsetzt. „Seine Lordschaft würde das nie billigen.“

„Seine Lordschaft wird so manches nicht billigen, also kommt es darauf auch nicht mehr an.“

Millet runzelte die Stirn und sah das junge Mädchen an. So hatte er es bisher noch nie sprechen hören.

Da es ihm als Diener nicht anstand, Fragen zu stellen, wartete er ab. Er wußte, daß Lady Gracila ihm von sich aus erklären würde, warum sie hier und nicht, wie es sich gehört hätte, zu Hause auf Schloß Sherington war.

„Setzen Sie sich wieder, Mitty“, sagte Lady Gracila, die den Butler schon von klein auf so genannt hatte.

„Ich soll mich setzen?“ fragte Millet erstaunt.

„Natürlich. Seien Sie doch nicht immer so respektvoll und distanziert. Wie beim Tod meiner Mutter, als Sie der einzige waren, der mich trösten konnte, brauche ich wieder Ihre Hilfe.“

Millet setzte sich und sah Lady Gracila besorgt an. Das junge Mädchen war blaß und machte einen bedrückten Eindruck.

„Mylady haben etwas auf dem Herzen“, sagte er vorsichtig. „Darf ich wissen, worum es sich handelt?“

„Ich bin von zu Hause weggelaufen, Mitty“, antwortete Lady Gracila.

„Wie bitte?“ Millet runzelte die Stirn. „Das können Sie nicht tun, Mylady. In ein paar Tagen ist Ihre Hochzeit.“

„Ich kann den Herzog nicht heiraten“, erklärte Lady Gracila. „Unmöglich! Und deshalb müssen Sie mir helfen, Mitty. Ich habe gewartet, bis alles geschlafen hat, habe einen Brief an meinen Vater hinterlassen, bin aus dem Haus geschlichen, habe Caesar gesattelt und bin hierher geritten.“

„Aber Mylady ...“

Millet kam nicht zu Wort. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, Mitty“, unterbrach Lady Gracila den alten Butler, „aber holen Sie bitte erst meine Sachen. Ich habe die wenigen Dinge, die ich jetzt noch besitze, auf das Pferd geladen.“

Millet wollte protestieren, kam aber wieder nicht zu Wort.

„Bitte, Mitty“, sagte Lady Gracila. „Bitte, tun Sie mir den Gefallen.“

Mit einem Seufzer ging Millet aus der Kammer und zog die Tür hinter sich zu.

Als sie allein war, schlug Lady Gracila die Hände vor das Gesicht.

Er muß mich hier behalten, dachte sie. Wohin soll ich denn sonst gehen? Hier vermutet mich niemand.

Ehe sie aus dem Schloß geflohen war, hatte sie verzweifelt überlegt, wie sie zu Geld kommen könnte. Sie hatte bisher nie Geld gebraucht und daher auch nie sehr viel mehr als ein paar Shillings bei sich gehabt.

Die wenigen Schmuckstücke aus dem Erbe ihrer Mutter, die nicht im Safe verschlossen waren, hatte sie natürlich mitgenommen. Den Rest hatte sie zurücklassen müssen. Der neue Butler, der mit dem guten alten Mitty leider nichts gemein hatte, hätte nie ohne Genehmigung ihres Vaters den Safe geöffnet.

Sie hatte versucht, einen klaren Kopf zu behalten und nicht hysterisch zu werden. Wegzulaufen war die einzige Möglichkeit gewesen, denn eine Heirat mit dem Herzog kam nicht in Frage.

Wie dumm sie doch gewesen war! Sie hätte seinen Antrag gar nicht erst annehmen dürfen.

Ihre Stiefmutter hatte alles eingefädelt und es auf ihre geschickte Art fertiggebracht, daß sie auf keinerlei Widerstand gestoßen war.

Sie war eine intelligente, schlaue Frau, und Gracila hatte erst viel zu spät begriffen, daß sie im Vergleich zu ihr ein ahnungsloses, gutgläubiges Wesen war.

Daß der Herzog von Radstock ausgerechnet sie zur Frau haben wollte, hatte sie aufregend gefunden. Jedes Mädchen, das sie kannte, hatte sie glühend beneidet.

Der Herzog war nicht nur eines der einflußreichsten und wohlhabendsten Mitglieder des Hochadels, er war auch ein sehr sportlicher Mann und besaß Pferde, die bei fast allen wichtigen Rennen den Sieg davontrugen.

„Der Familienschmuck der Radstocks ist einmalig“, hatte Gracilas Stiefmutter betont. „Nicht einmal die Königin kann mit Brillanten derselben Reinheit und Größe aufwarten.“ Sie hatte den Anflug von Neid in der Stimme nicht verbergen können. „Als Herzogin von Radstock bist du königliche Kammerjungfer und wirst zu jedem Staatsempfang eingeladen. Es heißt ja auch, daß die Königin eine Schwäche für den Herzog hat, was mich bei ihrer Vorliebe für gutaussehende Männer nicht wundert.“

Das alles hatte sehr verlockend geklungen.

Gracila liebte Pferde, und da sie selbst immer in einem großen Schloß gelebt hatte, empfand sie es als angenehm, sich auch in Zukunft nicht einschränken zu müssen.

Daß der Herzog sich nicht erst an sie, sondern direkt an ihren Vater gewandt hatte, enttäuschte Gracila. Doch dann schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand ein, und sie sagte sich, daß dies insofern verständlich war, als der Herzog wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kam, er könne abgelehnt werden. Schließlich war er die beste Partie ganz Englands.

Die Tatsache, daß der Herzog schon einmal verheiratet gewesen war, hatte Gracilas Stiefmutter nur kurz erwähnt. Die erste Frau war schließlich tot, und es erschien wenig sinnvoll, sich weiter über die Vergangenheit oder den Umstand auszulassen, daß der Herzog Gracilas Vater hätte sein können.

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