Nicht nur im südlichen, auch im nördlichen Südamerika mussten die Royalisten herbe Niederlagen einstecken. Im Juli 1818 nahmen Simón Bolívars Truppen im nordöstlichen Venezuela die Stadt Angostura (heute Ciudad Bolívar) ein. Damit verfügten auch Venezuelas »Patrioten« über einen festen Stützpunkt, der ihnen als Aufmarschgebiet gegen die Spanier diente. Selbst innerhalb Perus flackerten wieder Unruhen auf, so im Juli in der Provinz Andahuaylas und im Oktober in der Provinz Aymaraes.
Unterdessen erstanden die »Patrioten« Zentralchiles in London Schiffe und Ausrüstungsmaterial. Als Kommandanten für ihre neu geschaffene Flotte mit sieben Kriegsschiffen gewannen sie den schottischen Lord Thomas Cochrane, einen der bekanntesten Marineoffiziere Großbritanniens. Im Januar 1819 stieß Cochranes Flottenverband, dem auch ein Kontingent von 100 Schwarzen aus der La-Plata-Region angehörte, in peruanische Gewässer vor. Die Kriegsschiffe nahmen Limas Hafen Callao unter Beschuss. Während ein Teil der Flotte den Hafen abriegelte, griff Cochrane mit den restlichen Schiffen Häfen entlang der Nordküste an. »Patriotische« Emissäre gingen an Land, verteilten Propagandamaterial und nahmen Kontakte zu peruanischen Unabhängigkeitskämpfern und Rebellenführern auf. Gleichzeitig verschlechterte sich die Sicherheitslage im peruanischen Küstengebiet merklich: Sklaven flohen aus den Plantagen, subversive Aktivitäten hatten Hochkonjunktur, das Banditentum wucherte und Raubüberfälle auf den Straßen häuften sich.
Angefangen mit Supe am 5. April proklamierten mehrere peruanische Küstenorte die Unabhängigkeit. Lord Cochrane gelang es aber nicht, Lima in die Knie zu zwingen. Im Mai hob er die Blockade des Hafen Callao auf und segelten nach Chile zurück. Im September des gleichen Jahres fuhren Cochranes Schiffe abermals Richtung Norden los. Sie sperrten erneut die Zufahrt zu Limas Hafen und stießen anschließend bis nach Guayaquil vor. Ohne vorgängige Absprache mit der chilenischen Regierung nahm Cochranes Flottenverband Anfang Februar 1820 in einem Husarenstreich den stark befestigten Hafen von Valdivia in Südchile ein. Außerdem gelang es dem Schotten, royalistische Verstärkung aus Spanien abzufangen, den spanischen Handel im Südpazifik zu unterbinden und die peruanische Küste weiterhin unsicher zu machen. Dem nicht genug: Mit der tollkühnen Kaperung der gut gesicherten Fregatte Esmeralda im Hafen Callao im November erwies der schottische Marineveteran der Unabhängigkeitsbewegung einen unschätzbaren Dienst. Denn mit der Esmeralda, die über 44 Kanonen verfügte, verloren die Königstreuen das Flaggschiff ihrer Pazifikflotte.
Die Ausrufung der Unabhängigkeit
Der Hafen von Valparaíso bildete das Aufmarschgebiet für die »patriotischen« Invasionstruppen. Chiles Oberster Staatsführer Bernardo O’Higgins (1817–1823) übertrug dem befreundeten San Martín das Chefkommando mit weitgehenden politischen und militärischen Vollmachten. Die Seestreitkräfte befehligte, im Range eines Vizeadmirals, Lord Cochrane. Am 21. August 1820 lichteten 18 Transport- und sieben Kriegsschiffe ihre Anker. Neben 1600 Seeleuten waren die Division der Anden und die Division von Chile mit einer Truppenstärke von rund 4500 Mann sowie 35 Feldgeschütze an Bord. Bei rund 2000 Männern, die als Infanteristen, Kavalleristen, Artilleristen oder Seeleute dienten, handelte es sich um freigelassene Sklaven. Unter den Hauptleuten befanden sich Briten und US-Amerikaner. Buenos Aires beteiligte sich nicht an der Finanzierung der Militärexpedition, sodass der chilenische Staat die hohen Kosten allein zu schultern hatte. Am 7. September 1820 erreichte der Flottenverband die Bucht von Paracas, 250 Kilometer südlich von Lima. Tags darauf besetzten die Truppen die benachbarte Stadt Pisco. Angelockt vom Versprechen auf Freiheit, reihten sich viele geflohene Sklaven als Soldaten ins Invasionsheer ein.
San Martíns Offensive fiel in eine Zeit, in der politische Auseinandersetzungen und Bürgerkriege das spanische Mutterland und die Royalisten in Amerika erheblich schwächten. Die Rebellion der liberalen Kräfte in Spanien verhinderte das Auslaufen von Truppen und löste eine Welle von Desertionen in den spanischen Garnisonen in Übersee aus. Mit Truppen- und Materialnachschub aus Europa war nun nicht mehr zu rechnen. Kurz vor San Martíns Landung verkündete Vizekönig Pezuela das neuerliche Inkrafttreten der Verfassung von Cádiz. Verfassungskonform setzte er Wahlen für die Stadt- und Gemeinderäte, für die Abgeordneten der Cortes und diejenigen der Provinz an. Aus Madrid erhielt er den Befehl, mit San Martín Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufzunehmen. Zugleich versprach die neue spanische Regierung, eine Verhandlungsdelegation nach Peru zu entsenden.
San Martín willigte tatsächlich in Verhandlungen ein, die am 25. September in Miraflores in der Nähe von Lima begannen. Schnell wurde klar, dass keine gütliche Einigung möglich war. Als Repräsentant des spanischen Monarchen konnte und wollte Pezuela in keine Form von Unabhängigkeit einwilligen, zumal er davon überzeugt war, dass sich mithilfe der liberalen Verfassung die kreolischen Forderungen nach Gleichstellung und mehr Autonomie auch ohne Abspaltung vom Mutterland verwirklichen ließen. Nach ergebnislosen Verhandlungen und dem Auslaufen des Waffenstillstands am 4. Oktober setzte San Martín seine Streitkräfte wieder in Bewegung. Eine Truppeneinheit marschierte über Ica ins zentrale Hochland ein. Die »Patrioten« stießen bis ins Bergbaugebiet von Cerro de Pasco vor, wo sie den königstreuen Truppen am 6. Dezember 1820 eine empfindliche Niederlage bereiteten. Sie besetzten für kurze Zeit den Minendistrikt und beschlagnahmten das Silber. Außerdem beschädigten sie die englischen Dampfmaschinen, die man vier Jahre zuvor neu installiert hatte. Im Zuge dieser Militärexpedition erklärten sich neben Ica auch Tarma, Pasco und Huánuco für unabhängig.
In der Zwischenzeit schiffte sich das Gros des »patriotischen« Heeres wieder ein mit dem Ziel, einen Belagerungsring um Lima aufzuziehen. Die Hauptstreitkraft ging bei Ancón nördlich der Hauptstadt an Land. Sie richtete etwas später im nahen Huaura-Tal ihr Hauptquartier für sechs Monate ein. San Martín vermied es, seine zahlenmäßig unterlegenen Truppen in eine alles entscheidende Schlacht zu führen. Er konzentrierte seine Anstrengungen auf die Verbreitung antispanischer Propaganda und die logistische Unterstützung aufständischer Einheimischer. Durch die Blockade Limas beabsichtigte er, die Royalisten auszuhungern und sie durch Nadelstichoperationen zu zermürben. Obwohl Vizeadmiral Cochrane und manche Offiziere eine solche Strategie ablehnten, konnte San Martín erste Erfolge verbuchen. Eine wachsende Zahl peruanischer Gemeinden und Ortschaften erklärte sich für unabhängig. Angeführt vom Aristokraten José Bernardo de Tagle y Portocarrero, proklamierte der Stadtrat von Trujillo am 29. Dezember 1820 die Unabhängigkeit und unterstützte die Aufständischen mit Rekruten und Nachschub. Dem Beispiel Trujillos folgten alsbald Piura und weitere nördliche Orte. Bis im Mai 1821 sprach sich der gesamte Norden für die Loslösung von Spanien aus. Zahlreiche royalistische Soldaten und Offiziere liefen zu San Martín über. Im zentralen Hochland verstärkten sich währenddessen die antispanischen Guerillaaktivitäten.
Für die eingeschlossenen royalistischen Truppen in Lima, die unter Versorgungsengpässen und epidemischen Krankheiten litten, wurde die Lage immer schwieriger. Zugleich wuchs von ziviler Seite der Druck auf Vizekönig Pezuela, denn die neu gewählten Limeñer Stadträte forderten Verhandlungen mit San Martín. Auch die spanischen Offiziere haderten mit dem Vizekönig, dem sie Passivität und Tatenlosigkeit vorwarfen. In einer beispiellosen Aktion zwang das Offizierskorps am 29. Januar 1821 Pezuela zum Rücktritt. An seine Stelle trat General José de La Serna, ein in den napoleonischen Kriegen erprobter Kommandant und treibende Kraft unter den meuternden Offizieren. La Serna versicherte, die Verfassung von Cádiz respektieren zu wollen. Der Putsch zog keinerlei disziplinarische Maßnahmen seitens der spanischen Regierung nach sich. Im Gegenteil: La Serna wurde nachträglich offiziell zum Generalkapitän Perus ernannt.
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