»Sie haben wohl ein Problem mit der Kirche. Als Sie mich bei uns daheim mit Fragen durchlöchert haben, sollte ich auch einen Pfarrer verpfeifen. Zum Glück habe ich damals kein Wort gesagt.«
»Ich erinnere mich«, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu. Als Hannah zurückweichen wollte, spürte sie, wie sich die Treppensäule kalt gegen ihren Rücken drückte.
»Da warst du noch ein kleines Mädchen. Sieh dich an, wie erwachsen du geworden bist. Eine richtige Schönheit.« Seine Augen tasteten sie ab wie Scheinwerfer. Sein Schäferhund schlängelte sich wie eine Schlange um seine Beine, während Winters Finger durch sein Fell glitten.
Scham stieg in ihr auf. Er hatte sie damals vorgeführt wie eine Marionette. Erich Winter war in Rosenheim der Arm des Gesetzes gewesen. Regimegegner hatten es genauso schwer wie Juden. Er trug die Hauptverantwortung dafür, dass ihre Geschäfte zerstört und geplündert worden waren, hatte bei den Verhaftungen in der Reichskristallnacht danebengestanden und gelächelt. Genau wie jetzt.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«, fragte Hannah vorsichtig.
»Verstoß gegen das Heimtückegesetz. Er wird seine Strafe bekommen.«
Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. Die Stimmen von drinnen waren wieder lauter geworden, gleich würden die Männer aus der Kirche treten.
»Ich muss weg von hier!« Hannah konnte sich die Verhaftung nicht länger ansehen.
»Lass mich dich nach Hause bringen.«
In der Bewegung hielt sie inne und schaute Winter mit offenem Mund an. »Lieber fahre ich mit dem Priester zusammen ins Gefängnis!«, zischte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd war. Winter lachte hohl auf.
»Glaub mir, Hannah, dort drin würdest du es nicht einmal eine Stunde aushalten. Das Gefängnis ist nichts für so zarte Fräulein wie dich. Du erinnerst dich sicher noch an das Lager in deiner Heimat. Das Lager, aus dem du deine Juden geholt hast.«
Hannah erbleichte. Als Hans und Simon Sternlicht – Jacobs Vater und Bruder – in der Reichskristallnacht abgeholt und inhaftiert worden waren, war sie tags darauf mit ihrem Vater in das Lager gefahren. Dort waren sie Erich Winter über den Weg gelaufen. Am Ende hatte er sich einen Ruck gegeben und Hannah die beiden Gefangenen großzügig überlassen. Seine damaligen Worte, dass nichts im Leben umsonst war, hallten in ihr wider wie eine Totenglocke.
Sie hatte gehofft, dass sie Winter mit seinen unheimlichen Schlangenaugen und der arroganten Visage nie mehr sehen musste. Kaum war sie in Berlin angekommen, war jedoch genau er ihr in einem Café begegnet, und Hannah hatte seit diesem Tag immer befürchtet, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzen würden. Angst hatte sie keine vor ihm. Der Abscheu verdrängte jede Form von Furcht. Hass flammte in ihr auf, wenn sie daran dachte, wie hart er um die Freilassung von Hans und Simon Sternlicht nach der Reichskristallnacht in Rosenheim verhandelt hatte.
»Es freut mich sehr, dass du auch den Weg in die Hauptstadt gefunden hast, Hannah. Ich habe schon gehört, welche Erfolge du im Studium feierst.« Sein Lächeln hatte etwas Beängstigendes.
»Spionieren Sie mir etwa nach?«, fauchte sie.
»Gelegentlich«, gab er unverblümt zu. »In meiner Position habe ich mit den besten Ärzten des Landes zu schaffen. Viele davon lehren in der Charité. Ich bewundere fortschrittliche Frauen. Frauen mit einem Ziel im Leben.«
»Unterstützen Sie etwa nicht Ihre eigenen Ideologien? Ich dachte, dass eine Frau nur zum Kindergebären taugt. Sie sollte sich um die Erziehung und den Haushalt kümmern.« Ihr gelang es, seinem Blick standzuhalten. Der Hund zu seinen Füßen regte sich nicht. Wie eine Statue saß er da. Auch seine Augen hielten sie gefangen wie eine Maus in der Falle.
»Frauen, die über eine hohe Intelligenz verfügen, sollten diese auch nutzen. Als Ärztin dienst du letztendlich dem Deutschen Reich. Genau wie ich.«
»Ich bin nicht wie Sie«, zischte Hannah.
»Tatsächlich? Ich finde, dass wir ausgesprochen viel gemeinsam haben. Der Grips, der Ehrgeiz, die Verbissenheit. Du und ich sind aus demselben Holz geschnitzt. Du arbeitest genauso an deinem Erfolg wie ich an meinem.«
Erzürnt über seine Worte schüttelte Hannah den Kopf.
»Zu meinen Aufgaben gehört es, Menschen zu helfen. Nicht, Menschen zu misshandeln.«
»Der Arm des Gesetzes sorgt für Ruhe innerhalb unserer Gesellschaft. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder seine regimefeindliche Meinung herausposaunen dürfte. Der Priester hatte schließlich die Wahl und hat sich dafür entschieden, den Mund aufzumachen.« Seine Augen wanderten vom Eingang der Kirche bis zu den hohen Fenstern, durch die die Sonne hineinfiel und das Grün seiner Iris zum Leuchten brachte.
»Wie können Sie das alles nur mit Ihrem Gewissen vereinbaren?«
»Mein Gewissen ist rein wie Neuschnee. Ich tue, was richtig ist.« Er fasste sich an den Hut. »Du solltest besser verschwinden. Die Männer werden jeden Moment hier sein. Nicht, dass du am Ende noch in Ohnmacht fällst und ich dich doch nach Hause bringen muss.« Er zwinkerte ihr zu. »Nicht, dass ich dazu nicht bereit wäre, aber eine so fortschrittliche junge Frau wie du zieht es sicherlich vor, alleine nach Hause zu kommen. Husch Husch.« Er klatsche zweimal in die Hände. »Beeil dich jetzt. So wie sich das gerade angehört hat, sieht der Priester nicht besonders schicklich aus. Das könnte deiner zarten Seele nur schaden.« Hannah trat ein paar Schritte zurück. »Einen schönen Tag wünsche ich dir noch!«, rief Winter ihr zu.
Mit seinem Lächeln im Rücken, taumelte Hannah die Straßen entlang. Als sie um die Ecke bog, musste sie sich an einem Gartenzaun festhalten und sie sank in die Knie. Wie war es möglich, dass sie ihm wieder und wieder in die Arme lief? Während sie ihren Weg fortsetzte, verfolgte sie das Klicken einer Kamera wie Schüsse aus einem Maschinengewehr.
April 1941
München
Der Frühling war früh gekommen in der bayerischen Landeshauptstadt. Warme Regengüsse hatten die Bäume zum Knospen gebracht, die Parks und Gärten waren mit weißen Blüten übersät, durch die Hunde und Kinder jagten. Im Sonnenuntergang schien das frische Gras noch grüner.
Das weißverputzte Backsteinhaus lag wie eine Insel in dem wilden Blütenmeer. Hermann war zur Feier eines Kommilitonen eingeladen, dessen Eltern eine Villa am Stadtrand besaßen. An seiner Seite fuhr Karl, sein jüngerer Bruder, mit dem Fahrrad. In seiner Uniform hatte Karl fremd ausgesehen, doch als er diese gegen Lederhosen und ein Hemd tauschte, blitzte der altbekannte Schalk aus seinen Augen. Über den Krieg wollte er kaum sprechen. Er brauchte eine Pause, bevor er nach nur sieben Tagen Fronturlaub zurück in den Osten musste.
»Ich glaube, das muss es sein«, meinte Hermann und drückte die Bremse. Die Villa seines Freundes Leopold Brunner lag im Süden der Stadt. Seine Eltern waren dieses Wochenende verreist, und so hatte er zahlreiche Medizinstudenten zu sich nach Hause eingeladen.
»Solche Häuser habe ich in letzter Zeit nicht besonders oft gesehen«, raunte ihm Karl mit einem Augenzwinkern zu.
»Sieht aus, als ob wir etwas zu früh sind.«
»Natürlich sind wir das. Wann warst du denn jemals schon unpünktlich.«
»Ich wusste ja nicht, wie lange wir mit dem Rad tatsächlich hierher brauchen«, rechtfertigte sich Hermann.
»War nur ein Witz. Komm, lass uns an der Tür klingeln.«
Sie öffneten das große Eisentor, dessen Quietschen Hermann an ihr eigenes Zuhause erinnerte. Die Fahrräder lehnten sie gegen die Wand des Schuppens.
Eine junge Frau mit Lockenkopf öffnete die Haustür. Hermann warf Karl einen verwirrten Blick zu.
»Ihr seid hier schon richtig, wenn ihr zu Poldis Feier wollt. Viele sitzen schon draußen auf der Terrasse im Garten.« Sie folgten ihr durch den breiten Gang. »Ich bin übrigens Angelika.«
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