Die anfänglichen Ziele, die ihn von Bayern in die Hauptstadt getrieben hatten, hatte er erreicht. Sogar übertroffen, und das mit nur 33 Jahren. Seit einem halben Jahr lebte und arbeitete er nun in Berlin. Jeden Tag stand er um sechs Uhr morgens pünktlich in seinem Arbeitszimmer in der Prinz-Albrecht-Straße 8. In nur sechs Monaten war es ihm gelungen, sich hier einen Namen zu machen. Regelmäßig las er ihn in der Zeitung. Ein seltenes Lächeln ging über sein Gesicht, wenn er ein Bild von sich auf einem Titelblatt erspähte. Er erhielt Einladungen zu großen Feiern, durfte an Besprechungen teilnehmen. Selbst die »hohen Tiere« des Reiches kannten und schätzten ihn. Nicht länger war er irgendein kleiner Fisch im Reichssicherheitshauptamt, das nunmehr an die 3.000 Leute beschäftigte. Seine Befehle wurden befolgt und umgesetzt, er allein trug die Verantwortung für zwei Dutzend Mitarbeiter. Eine Verantwortung, die er sich lange gewünscht hatte. Wenn ihn sein Vater nur so sehen könnte!
Er stand am geöffneten Fenster und kostete den Moment voll aus. Sein Atem formte sich vor seinem Gesicht zu kleinen Wölkchen, dennoch öffnete er es ganz, lehnte sich mit dem Oberkörper nach draußen und schoss ein Bild vom Park. Eine Kamera – das war das Erste, wonach er verlangt hatte. Eine Kamera, um Momente wie diesen festzuhalten.
Sein Herz machte einen Satz, als er eine schlanke, blonde Frau erblickte, die mit einer Tasche am Arm durch die Parkanlage lief. Das Klacken ihrer Absätze drang bis zu ihm nach oben. Er setzte die Kamera an und sah durch die Linse. Enttäuscht erkannte er ein fremdes Gesicht.
Das Schrillen des Telefons lenkte seine Aufmerksamkeit zurück ins Arbeitszimmer. Er hastete zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer von der Gabel.
»Herr Sturmbannführer Winter«, erklang die Stimme seiner Sektretärin am anderen Ende der Leitung.
»Was gibt es?«
»Oberführer Müller möchte Sie sprechen. Er steht hier vor mir.«
Ein so wichtiger Besuch schon am frühen Morgen. Winter streichelte mit dem Daumen über den Telefonhörer und lächelte. Er kannte Heinrich Müller noch aus München. Direkt nach der Machtübernahme Hitlers war er in die neugegründete Bayerische Politische Polizei übernommen worden und kämpfte seitdem gegen die Feinde des Nationalsozialismus. Er war ein großes Vorbild, ein Planungsgenie. Winter kannte alle seine Arbeiten und war immer wieder aufs Neue beeindruckt, mit welcher Präzision und Genauigkeit er vorging. Winter hatte ihn nach dem Anschlag auf Hitler im Bürgerbräukeller persönlich kennenlernen dürfen. Durch Winters entscheidenden Hinweis, die Knie des Verdächtigen zu inspizieren, hatte er selbst damals zur Aufklärung des Falles beitragen können. Der Attentäter Georg Elser konnte daraufhin der Tat überführt werden. Müller, der nun schon viele Jahre in Berlin arbeitete, war sehr beeindruckt gewesen, weshalb er Winter nach seiner Ankunft in der Hauptstadt unter seine Fittiche nehmen wollte.
Die Tür öffnete sich und Heinrich Müller trat ein, ein schlanker Mann mit schmalen Lippen, die ihm eine gewisse Ernsthaftigkeit verliehen.
»Heil Hitler«, begrüßte Winter ihn und nahm den rechten Arm nach oben.
»Heil Hitler.«
»Darf ich dir etwas anbieten, Heinrich? Einen Morgenkaffee? Ich wollte mir selbst auch gerade einen machen lassen.«
»Gerne.«
Winter nahm erneut den Hörer von der Gabel und wählte die Durchwahl zu seiner Sekretärin.
»Hilde, wir möchten gerne einen Kaffee genießen. Ja, für mich schwarz.«
»Milch und Zucker«, sagte Müller.
»Genau, der Herr Oberführer wünscht Milch und Zucker.«
»Hast du die Bilder selbst geschossen?«, fragte Müller und hob eines der Schwarz-Weiß-Fotos hoch, die Winter auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Eigentlich hatte er diese in sein Album heften wollen.
»Erinnerungen, die bleiben«, gab Winter als Antwort.
»Eine hervorragende Idee. Man würde sonst vergessen, wie die Ruinen ausgesehen haben, nachdem wir sie wieder aufgebaut haben.«
Es klopfte zaghaft an der Tür und Winters Sekretärin kam mit einem Tablett herein.
»Ich stelle den Kaffee am besten auf den kleinen Besuchertisch. Milch habe ich in der Kanne dabei, da ich nicht wusste, wie viel es sein darf.«
»Herrlich. Wie immer alles richtig gemacht, Hilde«, schmeichelte Winter und Hildes Wangen flammten rot auf. Sie schlug die Augen nieder und verließ mit einem breiten Grinsen das Zimmer.
»Setzen wir uns doch, Heinrich.«
Winter nahm seine Tasse in die Hand und beobachtete Müller, wie er Milch zum Kaffee mischte.
»Du magst wohl nicht besonders gern blond«, witzelte Müller mit einem Augenzwinkern auf Winters Tasse, in der die schwarze Flüssigkeit fast bis zum Rand schwappte.
»Jedenfalls nicht bei meinem Kaffee«, gab Winter zurück und entlockte Müller damit ein Lächeln. Eisbrecher. Ein Witz war immer ein guter Einstieg in ein Gespräch.
»Ich hatte dir damals rudimentär vom Euthanasie-Programm erzählt. Vom Gnadentod an unheilbar Kranken«, begann Müller und Winter setzte seine Kaffeetasse an, um seinem Gegenüber mehr Zeit beim Formulieren der richtigen Worte zu geben. »Hitler selbst hat damals den Befehl erteilt und wir haben uns gemeinsam damit befasst und Pläne ausgearbeitet.«
»Aktion T4«, sagte Winter.
»Du weißt davon?«
»Man hört doch so einiges.«
Müller warf ihm einen erstaunten Blick zu.
»Keine Sorge, Heinrich. Ich habe nur vage Informationen erhalten, keine Einzelheiten.« Natürlich wusste Erich Winter um die Pläne der Aktion, aber er hoffte, dass Müller nun mit Details herausrückte.
»Ich müsste dir normalerweise eine Verschwiegenheitsurkunde zum Unterschreiben geben«, gab er zu bedenken. Winter fiel auf, dass er dabei den Kopf leicht schief hielt.
»Ich hole einen Stift«, sagte Winter und erhob sich.
»Nein, nein, nicht nötig, Erich.«
Die Finte mit dem Stift klappte immer wieder aufs Neue. Wenn man sofort bereit war, etwas zu unterschreiben, weckte das Vertrauen. Ein Vertrauen, das er brauchte wie die Luft zum Atmen. Vertrauen, das ihm Informationen beschaffte. Nicht nur von Müller, auch von den anderen hohen Funktionären der Gestapo und SS. Müller selbst war Leiter des Amtes IV. Leiter der Gestapo in Berlin und verantwortlich für die Gegnerbekämpfung im Reich. Sein Vertrauen war mehr wert als pures Gold.
»Mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses kamen wir nicht zu dem Ziel, das wir ursprünglich erreichen wollten. Durch die Sterilisationen konnten wir zumindest eine Weitergabe des defekten Erbguts vermeiden, aber dennoch leben die Menschen auf Staatskosten.«
»Von wie vielen Sterilisationen sprechen wir?«
»400.000. Mindestens. Du kannst dir ja vorstellen, wie viele Ärzte und Krankenschwestern wir dafür benötigen. Die Operationen sind vor allem bei Frauen sehr kostspielig.«
»Ich habe mir die Arbeit gemacht, das alles auszurechnen. Hohe Summen, die an anderen Stellen dringend gebraucht werden würden.« Winter blickte Müller aus schmalen Augen an. Wie immer verdüsterte sich seine Laune, wenn es darum ging, dass Gelder unnötig aus dem Fenster geworfen wurden.
»Aber fahr bitte fort, ich habe dich unterbrochen.« Winter trank den letzten Schluck Kaffee und leckte sich über die Lippen.
»Seit 1939 gibt es Meldebögen zur Erfassung bestimmter Personen, um detaillierte Angaben zu Krankheiten und zur Arbeitsfähigkeit machen zu können. Unheilbar Kranke. Psychisch Gestörte. Die Pflegeanstalten sind schließlich kein Entspannungshotel für Dauerurlauber. Man kann die Leute nicht bis an ihr Lebensende durchfüttern und medizinisch versorgen.« Müller hatte sich in Fahrt geredet, sein Kaffee stand vergessen auf dem Beistelltisch. »In unserer Zentrale wurden die Eintragungen an unsere Obergutachter übermittelt. So konnten sie anhand des Zustands der Patienten sofort entscheiden, ob eine Fortführung der Behandlung überhaupt Sinn macht. Ihre Entscheidung wurde den Heilanstalten mitgeteilt und die Patienten verlegt.«
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