Anstelle eines Prologs
1 Der Anfang
2 Not treibt fort
3 Strafe statt Hilfe
4 Nichts geht mehr
5 Weggesperrt und abgeschoben
6 Der Kampf um die Kinder
7 Jenseits von Recht und Liebe
8 Die sieben Verlorenen
9 Glückloser Neuanfang
10 Auswanderungsträume
11 Das Kreuz mit dem zweiten Mann
12 Versuch einer Normalität
13 Kein Ende der Bettelei
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Konsultierte Literatur
Liebe Anna Maria
Es gibt Briefe, die kommen nie an und müssen doch geschrieben werden. So wie dieser Brief hier. Nie wirst du, liebe Anna Maria, ihn aus deinem Briefkasten holen, ihn mit deinen von der Stickerei zerstochenen, vom Leichenwaschen aufgeweichten und vom Schreiben ermüdeten Fingern aufreissen, nie wirst du diese Zeilen lesen, irritiert, verwundert, vielleicht auch mit etwas Freude. Denn du bist seit beinahe fünfzig Jahren tot.
Wir schreiben diesen Brief als Prolog für ein Buch, das von dir erzählt. Er soll erklären, warum ausgerechnet deine Lebensgeschichte hier nachzulesen ist. Menschen wie du kommen in Büchern meist nicht vor, und wenn doch, dann nur als anonyme Masse. Stickerinnen, Putzfrauen und Leichenwäscherinnen schreiben keine Memoiren. Sie gehören zu jenen Frauen, die Geschichte machen, aber nicht Geschichte schreiben. In deiner Familie hat man das Vergessen noch ein bisschen weiter getrieben. Du galtst als eine Liederliche , die abgehauen sei, ihre Kinder dem Verdingwesen ausgesetzt habe, und man hat nicht einmal deinen Namen genannt.
Die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild. Nicht du warst es, die sich die Freiheit nahm, zu gehen, wohin es dich zog, nicht du hast deine Kinder verlassen. Es waren die Behörden, die dich von ihnen trennten, die dich wegbeorderten und verurteilten, die dich wegen deiner Armut aus den Städten ausschafften oder in Anstalten steckten. Du wurdest gehetzt, verurteilt, bestraft und verwaltet als Antwort auf deine unermüdlichen Versuche, zusammen mit deinen Kindern zu überleben.
Dein Hauptdelikt war so unverschuldet wie eindeutig. Es war deine Armut. Du wurdest in eine Zeit der Krise geboren, gingst den gespurten Weg der Töchter von deinesgleichen, wurdest Nachstickerin, hast früh geheiratet und Kind um Kind geboren, hast dich durchgeschlagen an der Seite zweier Männer, die dir nicht Hilfe waren, sondern flohen vor dem Elend und sich einrollten in die Wärme des Alkohols. Und des Irrsinns.
Du bist längst nicht die einzige in unserem Land, deren Leben so unerbittlich von Armut stranguliert wurde. Nur wissen wir wenig von Leuten wie euch. Bei dir wollte das Schicksal es anders. Du musstest dein Leben ständig rapportieren, rechtfertigen, musstest Bittbriefe schreiben, und die Behörden haben geprüft, gemassregelt, verurteilt, protokolliert. Das alles wurde ordentlich in Archiven abgelegt.
Der Zufall half mit, dass wir diese Bruchstücke deines Lebens entdeckten. Sieben Jahre lang sind wir deinen Spuren nachgereist, über 1500 Quellen haben wir gefunden.
Unser Versuch, dein Leben nachzuerzählen, beansprucht keine letzte Wahrheit. Es wäre vermessen, zu glauben, wir wüssten, wie du empfunden, wie du dein Leben erfahren hast. Unser Versuch ist eine Konstruktion. Aufgebaut aus in Folianten und auf Briefbogen konservierten Botschaften. Angereichert mit Wissen über die Schweiz, wie sie damals war.
Wir haben uns für diesen Brief als Vorwort zu deiner Geschichte entschieden, weil Briefe in deinem Leben derart wichtig waren. Du hast unzählige davon geschrieben, zur Post getragen, meist in bettelndem, selten in zornigem Ton.
Unser Brief ist eine verspätete Antwort. Und unser Buch der Versuch, dich zu uns und in die Geschichte zurückzuholen.
In diesem Sinne grüssen dich
Dein Enkel Heinz, der sich aufmachte, deine Spuren zu suchen,
Lisbeth, eine Anverwandte, die all die Geschichten aufgeschrieben hat.
Anna Maria Boxler gehört zu jenen Menschen, die gewissermassen zweimal geboren wurden. Ein erstes Mal im Jahr 1884, in einer ärmlichen Stube im Rheintal, als Tochter einer jungen Fädlerin. Und – 120 Jahre später – ein zweites Mal, ausgelöst durch den Tod ihres Sohnes Julius und den damit verknüpften amtlichen Lauf der Dinge. Julius – er war das siebte von neun Kindern – hatte die meiste Zeit seines Lebens in toggenburgischer Heimfürsorge verbracht. Er wurde seiner Mutter gleich nach der Geburt weggenommen und am Tag nach seinem ersten Geburtstag für die restlichen 85 Jahre seines Lebens bevormundet. Er überlebte die Mutter um viele Jahre und verstarb, das neue Jahrtausend hatte bereits begonnen, arm wie eine Kirchenmaus im Nesslauer Bürgerheim. In der Folge dieses Todes stellte die Vormundschaftsbehörde von Nesslau-Krummenau zuhanden des gemeinderätlichen Protokolls ein letztes Mal die Aktiven und Passiven ihres Heiminsassen zusammen, liess die säuberlich kopierte Schlussabrechnung den Erben zustellen, zusammen mit der Information, dass nach der Begleichung der Kosten für die Formalitäten und die Beerdigung ihres Verwandten und nach Rückzahlung einer Überbrückungshilfe, die das Sozialamt im Jahr zuvor dem Mündling noch gewährt hatte, nichts zu erben sei. Die Nachricht dieses stillen Todes in Form einer Erbschaftsbescheinigung für eine Erbschaft, die keine war, erreichte vorwiegend Verwandte, die nie zuvor von der Existenz eines Onkel Julius gehört hatten. Sie waren deshalb auch nicht sonderlich traurig, weder über den Tod des Verwandten noch über den Verlust einer Erbschaft, die sie gar nie erwartet hatten. Sie öffneten dem Klingeln des Postboten, nahmen den eingeschriebenen Brief im Abgleich mit einer Unterschrift entgegen und entschlüsselten verwundert die kargen Botschaften zu einem Leben, von dem sie vielleicht einmal eine dürftige Bemerkung oder überhaupt gar nie etwas gehört hatten.
Doch das amtliche Dokument barg noch ein weiteres Geheimnis, unscheinbar in eine Klammer gesetzt. Es war der Name jener Frau, von der man in ihren Familien gar nie oder dann nur verschämt geredet hatte, die höchstens in einem flüchtigen Nebensatz als liederliches Luder aufgetaucht und gleich wieder verschwunden war. Gemeint ist jene Frau, die diesen Onkel Julius und all die andern Kinder, zu deren Nachfahren man selbst gehörte, geboren hatte. Nun also stand ihr Name in schwarzen Lettern auf einem amtlichen Papier, als Mutter von neun Kindern und Grossmutter einer beachtlichen Schar von Enkeln und Enkelinnen: Anna Maria Boxler. Ein wohlklingender Name.
Der lautmalerische Klang mit seinen dunklen Vokalen setzt sich im Kopf eines der Enkel fest, ungefragt, fast ein wenig aufsässig. Dieser, ein studierter Historiker, kommt ins Nachdenken, plötzlich meint er die Stimme seines Vaters zu hören, wie er ihm vor vielen Jahren erzählt hat, dass seine Mutter, als er fünf war, abgehauen sei, einfach so. Mehr war damals aus dem ehemaligen Verdingkind nicht herauszubekommen. Nun ist der Vater schon lange tot, und er, der Sohn, steht plötzlich da, mit diesem fremden Namen im Ohr, dieser Unbekannten, die seine Grossmutter war. Und dann fasst der Enkel sich ein Herz und entscheidet, dass es Zeit sei für den Versuch, ihr Geheimnis aufzuspüren. Er beschliesst, seine Grossmutter, falls möglich, noch einmal in die Welt zurückzuholen. Es wird ein unerwartet langer Weg werden, eine zähe zweite Geburt.
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