Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Mit Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt: Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung Katharina Strebel Stiftung Stiftung Interfeminas
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild: Staatsarchiv Aargau, Justizvollzugsanstalt Lenzburg, Häftlingsdossier Nr. 389; Bild S. 1
: Privatbesitz. Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und Jetzt Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-484-1
ISBN E-Book 978-3-03919-954-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Vorwort
Im Burghölzli
Das Gutachten
Urteile
Entmündigung und Versorgung
Listen der Ohnmacht
Zwischen Gittern
Die Wiederkehr des Gleichen
Die Königsfelder Akte
Die Verwahrung
Herrendienste
Der Kampf um die Tochter
Neustart am Napf
Nachgeborene
Pauline Schwarz – Stationen als Gefangene
Quellen und Literatur
Anmerkungen
Dank
Autorin
«Der gesellschaftliche Weg ist uns ein für alle Mal durch den eisernen Vorhang der Strafakte versperrt. […] Es ist zu spät, zu unauslöschlich, nicht umsonst nennt man die Verurteilungen ‹Tätowierungen›.»
Albertine Sarrazin, mehrfach verurteilte Einbruchs- und Taschendiebin (1937–1967)
«Bestimmt will ich ein liebes Mutti sein u. nie mehr so etwas machen, wieviel musste ich ja ungerecht verbüssen aber man glaubt nur andern, es ist klar wenn man etwas gebost hat u mit dem Gesetz in Konflikt bist, bist wehrlos. Aber warum ich so geworden bin, frägt man nie, sondern zieht nur das böse hervor.»
Pauline Schwarz, Auszug aus einem Brief an ihren Ehemann, Kantonale Heilanstalt Königsfelden, 28. Januar 1951
Die Schweiz schaut zurück. Forscht, denkt nach. Entschuldigt sich. Im Fokus stehen die administrative Versorgung, die Zwangsarbeit, die Verwahrung. Der Ausschluss und das Wegsperren einer ganzen Gruppe von Bürgerinnen und Bürger im letzten Jahrhundert. Menschen, die es nicht schafften, im Land der Anständigen anzukommen. Sogenannt Liederliche und Arbeitsscheue. Oder Trunksüchtige und Asoziale. Die manchmal auch mit dem Gesetz kollidierten. Sie galten als die «Vertreter der Unordnung», wie Friedrich Glauser, der Dichter, sie einst nannte, gehörten zum Stand der Unruhigen, oft ein trauriges Leben lang. Es gab Zehntausende von ihnen. Ihr Leiden war gross.
Hinter Abstraktionen und Zahlen stehen Menschen. Verbergen sich Lebensläufe. Im Falle von Pauline Schwarz das Leben einer Frau. Genauer einer Straftäterin. Geboren 1918, gestorben 1982. Sie war fünf Mal verheiratet, schenkte fünf Kindern ein Leben. Vierzehn Mal stand sie vor Gericht, verbrachte neun Jahre und einen Monat ihres Lebens hinter Gittern oder Verwahrungstüren. Vorwiegend wegen Diebstahls und Betrug. Von solch delinquenten Frauen weiss man noch wenig. Sie waren in der göttlichen Ordnung der Männer nicht vorgesehen. Entsprechend hart wurden sie von der Justiz gemassregelt. Und von der Psychiatrie als «moralisch defekt» pathologisiert.
Die Geschichte der Pauline Schwarz zeichnet ein solches Leben nach. Rekonstruiert deren Biografie von den Anfängen als Armeleutekind im Rheintal bis zu ihrem Lebensabend als Bäuerin am Napf. Die hervorragende Quellenlage ermöglicht Präzision im Nachverfolgen eines getriebenen Lebens, die Einbettung in das Zeitgeschehen das Aufdecken der so gewichtigen Rolle der Psychiatrie im biografischen Geschehen. Und beides zusammen erlaubt das Aufspüren einer Handlungslogik dieser als «Gewohnheitsverbrecherin» so oft weggesperrten Frau.
Der Anstoss zu dieser biografischen Nachverfolgung kam von einer der Töchter von Pauline Schwarz. Sie wurde gleich nach der Geburt von der Mutter getrennt, lebte mit fragmentarischem Wissen über die Frau, die sie geboren hatte. Es waren vor allem Schreckensbilder und Gerüchte. Nach ihrer Pensionierung begann sie, den Lebensweg ihrer Mutter zu erforschen, und wollte wenigstens die verschiedenen Stationen dieses wirren Lebens zusammentragen. Sie war dabei beeindruckend hartnäckig. Fand Abwehr und Unterstützung. Verlor sich dann irgendwann in den unzähligen Akten und deren Leerstellen.
Nun ist daraus doch noch eine Lebensgeschichte geworden. Eine biografische Reise. Zusammengefügt aus Hunderten von schriftlichen und mündlichen Quellen. Die Namen sind bis auf wenige öffentliche Amtsträger alle anonymisiert. Die Orte aber sind authentisch. Es ist der Versuch, hinter der verstümmelnden Sprache von Justiz, Psychiatrie und Behörden das Gesicht einer Frau freizulegen, die individuell und exemplarisch für ihr Geschlecht steht. Und ihr damit ihre Biografie zurückzugeben. Im Schutze eines Pseudonyms.
Lisbeth Herger, im Herbst 2020
Ob der Polizist die junge Frau in Handschellen in die Kantonale Heilanstalt überführt hat, ist nicht dokumentiert. Überliefert ist nur, dass die Strafgefangene dort am 18. November 1941 nachmittags um drei Uhr dem zuständigen Psychiater übergeben wird. Zürichs psychiatrische Anstalt, landesweit und über die Grenzen hinaus bekannt als «Burghölzli», steht auf dem gleichnamigen Hügel im Südosten der Stadt. Hoch über dem See, von Wald und Reben umgeben. Einst hiess das Burghölzli schlicht «Irrenheilanstalt», inzwischen steht «Heilanstalt und psychiatrische Universitäts-Poliklinik» auf den offiziellen Papieren. Aber das Burghölzli sitzt tief in den Köpfen der Leute. Die Frau, die aus der Untersuchungshaft hierher verschoben wird, heisst Pauline Schmid, geborene Schwarz, ist 23 Jahre alt, verheiratet. Sie ist Mutter eines kleinen Sohnes, Stiefmutter einer ganzen Kinderschar, das Jüngste ist sieben, die Älteste, Ida, längst erwachsen. Pauline war gerade mal 21, als sie ihren Mann, den Witwer Armin Schmid, einen Landwirt und Bauarbeiter aus Regensdorf, heiratete. Der Mann ist mehr als doppelt so alt. Für kurze Zeit hatte sie bei ihm als Haushälterin gedient, dann wurde sie schwanger. Doch das Ungeborene überlebte die rohe Gewalt des Erzeugers nicht. Kurz nach der Hochzeit wurde es der werdenden Mutter vom Mann aus dem Bauch geschlagen. Sie aber wurde sogleich wieder schwanger. Das brachte neue Gewalt. Nach der Geburt floh die Frau, erst mit, später ohne Kind; verdingte sich in fremden Häusern, machte Schulden, versuchte, mit kleinen Diebstählen und Schwindeleien an Geld und Waren heranzukommen. Sie kehrte zurück, floh und flunkerte erneut, ging wieder heim. Und war bereits wieder in anderen Umständen.
Schliesslich hatte Ehemann Armin genug von diesen Wirren. Nach einem Streit liess er seine Frau polizeilich abholen, schlug Alarm auf dem örtlichen Posten, klagte, dass «seine Frau sich aufführe wie verrückt, man müsse damit rechnen, dass ein Unglück passiere. Sie habe schon vor zwei Tagen gedroht, sie schneide sich und dem kleinen Knaben Jakob, der erst etwa einjährig ist, den Hals auf». Zudem, so empörte er sich, habe sie mit dem Karabiner auf ihn gezielt. Als die Polizei eintraf, fanden sie Pauline mit dem Kind in einem Zimmer verbarrikadiert. Sie wünschte, zu ihrem Vater nach St. Margrethen fahren zu können, der aber wollte nichts von ihr wissen. Der Polizist verhaftete die «wiederholte Betrügerin», vom Bezirksgefängnis wurde sie nach einer Woche Untersuchungshaft in die Kantonale Heilanstalt Burghölzli überführt. Zur Begutachtung ihrer «Geistestätigkeit».
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