Hannah liebte die harte Arbeit, schonte sich nicht und wusste, dass sie als Frau mehr leisten musste als ihre männlichen Kommilitonen. Im besten Falle machten Frauen noch eine Ausbildung zur Krankenschwester, so wie ihre ehemalige Freundin Elsa. Manche verdienten als Telefonistin, Hausmädchen oder Erzieherin ein paar lausige Reichsmark. Trotz der Vorurteile, dass Frauen weniger leistungsfähig wären, mussten sie seit Kriegsbeginn Arbeitsplätze von Männern in der Industrie, der Verwaltung und im öffentlichen Verkehr übernehmen. Selbstverständlich für viel weniger Lohn und nur temporär, bis die Männer wieder aus dem Krieg heimgekehrt waren. Ein langes Studium galt als absolute Zeitverschwendung. Bis man fertig war, waren die besten Jahre der Frau vorbei. Sie war dankbar, dass ihr Vater ihr niemals das Gefühl gegeben hatte, dass sie als Mädchen weniger schaffen konnte als ihre beiden älteren Brüder. Er hatte sie ermutigt und an sie geglaubt. Er hatte ihren Geist beflügelt und ihren Ehrgeiz geschürt. Sie würde nicht eher aufgeben, bis sie ihr Examen in der Tasche hatte. Hannah verspürte einen gewissen Stolz, da sie zu den Jahrgangsbesten gehörte. Ihr wurde stets auf die Finger geschaut, ihre Zeichnungen wurden kritischer beäugt und ihre Abfragen erschienen ihr ruppiger. Misstrauen wurde ihr entgegengebracht und Zweifel schimmerten in den Augen der Professoren, die einer Frau ein solches Studium nicht zutrauten. Dennoch hatte sie sich wieder und wieder bewiesen und alle Prüfungen mit Bestnoten bestanden. In einer Klausur war es ihr sogar gelungen, die Ergebnisse ihres Bruders Hermann zu toppen. Der Wunsch, Menschen zu helfen und Ärztin zu werden, war größer als die Angst vor dem Versagen.
Normalerweise arbeitete Hannah sogar noch am Wochenende in einem Café. Ihr Vater Georg Sedlmayr, der im Süden Bayerns eine Arztpraxis besaß, schickte ihr zwar jeden Monat einen Geldbetrag, von dem sie gut leben konnte, und er bezahlte die Miete ihrer kleinen Stadtwohnung, aber sie wollte ihm nicht zur Last fallen und auf eigenen Beinen stehen. Für eine junge Frau galt es zwar als unschicklich, wenn sie in ihren eigenen vier Wänden ohne die elterliche Kontrolle lebte, doch Hannah achtete nicht mehr auf das Gerede fremder Leute. Sie hätte auch in die Stadtvilla ihres Onkels ziehen können, hatte sich aber dagegen entschieden. Sie musste frei sein, ihre eigenen Entscheidungen treffen. Ihr Onkel Tim, der als Mitglied der SPD im Reichstag gesessen hatte, hatte sich seit dem Reichstagsbrand aus der Politik zurückgezogen und arbeitete in einer hohen Position in einer großen Fabrik. Wenn sie Hilfe brauchte, konnte sie sich an ihn wenden. Er war es auch gewesen, der ihr die Wohnung beschafft hatte. Ein beruhigender Gedanke, einen Verwandten in der Nähe zu haben.
Hannahs Bruder Hermann, der in München lebte, war bald am Ende seines Studiums angekommen. Sein Traum war es immer gewesen, die Praxis ihres Vaters in Rosenheim zu übernehmen, doch der Krieg hatte alle Pläne durchkreuzt – das Land brauchte Ärzte. Sie wollte gar nicht daran denken, wohin sie Hermann schicken würden, ohne jegliche Praxiserfahrung, die er vorher in einem Krankenhaus hätte sammeln dürfen. Man wurde heutzutage einfach ins kalte Wasser geworfen. Entweder man lernte zu schwimmen oder man ertrank, so einfach war das. Was die jungen Ärzte an der Front erwartete, das war wahrscheinlich nicht einmal im Traum vorstellbar.
Ihr anderer Bruder Karl war schon vor über einem Jahr eingezogen worden. Mit seinen 22 Jahren beherrschte er den Morsecode wie seine Muttersprache und war als Funker eingesetzt. Wo genau, konnte Hannah nicht einmal mehr sagen. Es dauerte Wochen, bis einer seiner seltenen Briefe zu Hause einflatterte, und gesehen hatte sie ihn im letzten Sommer, als er auf Heimaturlaub war. Von ihrem immerlustigen, verrückten Bruder war nichts mehr übrig gewesen. Beim kleinsten Geräusch ging er in Deckung, seine Ohren und Augen schienen schärfer geworden zu sein. Eine Fähigkeit, die man zum Überleben brauchte.
Im Spätsommer war sie dann zusammen mit ihrer Freundin Marlene Liebreiz nach Berlin gezogen. Marlene wartete auf ihren großen Durchbruch als Schauspielerin und Sängerin. Eine Augenweide. Die Männer drehten sich reihenweise nach ihr um, wenn sie sich mit wiegenden Hüften an ihnen vorbeischlängelte. Hannah bewunderte sie für ihren Mut, ihr Selbstbewusstsein und den richtigen Riecher für die neueste Mode. Neben ihr war Hannah ein zwitschernder, kleiner Spatz, Marlene hingegen ein schillernder Pfau. Eine Exotin auch in ihrem Verhalten, denn sie gab nichts auf die Meinung von anderen. Hermann war ihrem Charme voll und ganz erlegen. Von Marlene wusste sie, dass sie nach wie vor Briefe austauschten und von Zeit zu Zeit telefonierten. Mit ihren 26 Jahren konnte Marlene zwar einen Haufen Verehrer an jedem Finger vorweisen, eine richtige Beziehung hatte sie aber noch nie geführt. Marlene liebte die Freiheit mehr als alles andere. Liebe war austauschbar – Freiheit unbezahlbar.
Immer noch war Hannah ihr unendlich dankbar, dass sie mit ihr in die Hauptstadt gegangen war. Allein hätte sie nie den Mut aufgebracht, in eine Stadt zu ziehen, die so weit weg von ihrem Zuhause lag. Sie hatte sich einen Tapetenwechsel gewünscht, und als Marlene ihre alte Heimat vorgeschlagen hatte, war es an der Zeit gewesen, die Koffer zu packen. Ein Neustart. Ein glatter Bruch. Knapp siebenhundert Kilometer lagen nun zwischen ihrer Heimatstadt Rosenheim und Berlin. Siebenhundert Kilometer, die ihr Platz zum Atmen gaben.
Nie hätte sich Hannah träumen lassen, dass sie mit nicht einmal zwanzig Jahren an gebrochenem Herzen leiden würde. Nie hätte sie gedacht, dass man in der Fremde seine Heimat so sehnsüchtig vermissen konnte.
Sie war ein Mädchen vom Land. Der Großstadtdschungel machte ihr immer noch ein wenig Angst, und manchmal stellte sie sich vor, den Asphalt gegen löwenzahnbedeckte Felder auszutauschen, die Pflastersteine gegen Mohnblumen. So sehr sie es auch versuchte, in Berlin konnte sie nie ganz zur Ruhe kommen. Sie sehnte sich nach den Bergen, der freien Landschaft, nach dem vertrauten Dialekt. Aber das neue Leben brachte auch seine Vorteile mit sich. Hier hatte Hannah die Chance, erwachsen und als eigenständige Person wahrgenommen zu werden, nicht nur als die kleine Arzttochter.
In ihrem alten Leben in Bayern war sie mit Jacob zusammen gewesen. Jacob Sternlicht. Wenn sie seinen Namen laut aussprach oder jemand anderes ihn in den Mund nahm, schmerzte es sie wie die Klinge eines Messers. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Sie waren miteinander aufgewachsen, waren zusammen zur Schule gegangen. Später verband sie eine verbotene Liebe. Denn anstatt glücklich sein, ins Kino oder zum Tanzen gehen zu dürfen, waren sie gezwungen gewesen, sich heimlich zu treffen, geheime Worte auszutauschen, sich hinter verschlossenen Türen zu küssen und sich im Verborgenen nahe zu sein. Dank des falschen Ausweises, den Marlene für Jacob besorgt hatte, hatten sie wenigstens in München ein wenig Freiheit genießen können. Dennoch, ihre Liebe galt als Rassenschande, denn Jacob Sternlicht war Jude.
Die Erinnerung an den Abschied schmerzte sie, und immer noch stachen ihr Tränen in den Augen, wenn sie darüber nachdachte. Jacob hatte ihr erzählt, dass sie eines der heißbegehrten Visa nach Amerika bekommen hatten. Es war ihr gemeinsamer Traum gewesen, dort ein neues Leben zu beginnen. Stattdessen hatte er sie vertröstet, dass sie nachkommen sollte nach New York. Der Abschied lag nun schon fast ein Jahr zurück. Es war das letzte Mal, dass sie von Jacob etwas gehört hatte.
Seitdem kam sich Hannah oft vor wie in einem Alptraum. Einer dieser Alpträume, in dem man rannte und rannte, ein Ziel vor Augen. Doch egal wie schnell man sich bewegte, wie sehr die Lunge brannte, das Ziel rückte immer weiter und weiter in die Ferne und blieb unerreichbar.
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