Inhaltsverzeichnis
Es kann alles sein
Falsche Entwarnung
Dommis Augen
Bis ins Mark
Verhandlung mit Gott
Meine Haare
Schlechte Venen
Bettzeug
Verschmutzte Flüsse
Warten
Cortison
Sudoku
Grauen
Kämpfen
Nur keine Wellen!
Violettes Licht
Komm, großer schwarzer Vogel
Mika Häkkinens Frau
Die Maus
Bindegewebe
Der Krebs der Perfektionisten
Krankheitsgewinn (»Wehr-Macht«)
Schäfchen
Hightech-Check
»ER« ist zurück (2005)
Mabthera
Katzis
Namyohorengekyo
Akzeptieren lernen
Hasentraum
Die Sterbende
Aqua-fitten
Zen
Eine blaue Samtmaske
»ER« schon wieder ... (2007/08)
You’ve got mail
Butoh
Visualisieren
Das zeichnende Kind
Cortisonbäckchen
Gott ist eine Katze
Die Zahnlose
Tagebuch
Dominiques Matura
Leichte Mädchen
ER«: David gegen Goliath (2012/13)
Wolken
Übers Sterben
Der heilende Entschluss
Dommis Hochzeit
Der Kenner stirbt in Wien
Unterwegs
Die große Entscheidung
Endlich
Blick in die Zukunft
Mozart
Anhang
Literatur
Die Autorin
Copyright
Für meine Schweizer und meine Wiener Freundinnen
Healing is a biological, psychological and spiritual process, a journey whose ancient secrets are stored in every cell of our body. The modern world has accustomed us to quick results in every realm, including the medical. We lack the patience for long journeys; we want all our travels to be by airplane. But a journey was different in the ancient world. In those days to travel meant to endure hardship and danger. Even today, healing is still more like the ancient than the modern journey. We may have learned to travel by airplane, but actual healing, cell by cell, still proceeds the old way.
Healing Lazarus, Lewis Richmond
»Es kann alles sein ...«, sagt der Arzt und schaut auf die Geschwulst an meinem Hals. Obwohl ich die Antwort scheue, frage ich nach: »Was alles?«
»Eine allergische Reaktion oder eine Viruserkrankung.«
»Was noch?«
»Es könnte ... Das ist unwahrscheinlich in Ihrem Alter. Mit 43 ...«
»Was?«
»Es könnte Lymphdrüsenkrebs sein.«
Da weiß ich es. Bevor es noch in irgendeinem klinischen Befund steht, weiß ich es.
Ich lächle den freundlichen Arzt automatisch an, denke, er kann ja auch nichts dafür, verabschiede mich höflich, eine Überweisung zu einem Spezialisten in der Hand, gehe ruhig aus der Ordination Richtung Wagen. Mein Körper ist auf Autopilot eingerastet, so wie damals, als man mir mitgeteilt hat, ich müsse sofort auf die Intensivstation gebracht werden, mein Leben und das meines ungeborenen Kindes sei in Gefahr.
Auf einmal sitze ich im Auto, ohne mich an den Weg, an das Suchen des Schlüssels in der Handtasche zu erinnern. In mir ist es leer – ich kann nichts denken, außer: »Was soll ich jetzt denken?« Black-out, Time-out.
Durch die regennasse Windschutzscheibe sehe ich die Autos auf der Autobahnbrücke vor mir von Tropfen zu Tropfen hüpfen, rasen. Sie verdichten sich zu farbigen Schlieren, wo der Regen nasse Felder auf dem Glas hinterlässt. Ich sehe die Autos, nehme sie nicht wahr. Ich höre den Verkehrslärm, nehme ihn nicht wahr. Ich sitze eine ganze Weile. Denke kurz: Ich muss hier weg, der Parkschein läuft ab. Ich kann mich nicht bewegen. Nur sitzen. Ich muss heim. Dommi wartet.
Ich massiere mit meinen Fingerknöcheln das Brustbein, das in einem Schraubstock eingeklemmt ist. Atme tief durch. Mein Kopf ist ein mit Nichts prall gefüllter Ballon, was hereindringt klingt dumpf, hohl, als würde jemand mit dem Finger von außen an den Ballon schnippen.
Ich verstehe nichts, denn da ist kein Problem, ich suche keine Antwort, denn da ist keine Frage. Da ist nichts außer den vorbeirasenden Autos, die mich nichts angehen. Ich sitze, schaue, warte – nein, ich warte nicht einmal.
Auf einmal wird alles in mir wieder lebendig. Das Hirn wacht auf, beginnt zu plappern. Auto starten, auf die Autobahn, nach Hause fahren, auf dem Weg einkaufen, zuerst noch zum Bankomaten ...
Das Hirn sagt, was zu tun ist, erklärt mir die Welt, wie immer. Ich will nicht aufwachen, will nur still und schmerzlos sitzen.
Meine Seele ist wund. Eine Brandblase. Was tue ich hier? Wer bin ich? Ich bin nichts. Ein Furz im All. Ich bin alles. Alles, was ich bin. Nichts und gleichzeitig 100% »Ich«.
Ich halt’s nicht aus. Ich bin nichts und alles. Ich habe Krebs. Ich habe ein Kind. Dommi. Ich muss es ihr sagen. Was denn sagen, ich weiß ja selbst nichts ...
Ich sehe Autos, Menschen, Schirme, Hunde, Häuser, Straßenbahnen, Bäume im Wind, eine nasse Katze. Alles wie immer. Ich muss mich jetzt konzentrieren. Ich muss heimfahren. Ich kann das. Es ist alles wie immer.
Und es wird auch alles weitergehen wie immer. Die Autos werden fahren. Die Hunde werden spazieren geführt werden. Die Bäume werden sich im Wind biegen.
Alles wird sein wie immer.
Nur ich werde tot sein.
Als ich den Motor starte, schaltet sich automatisch das Radio ein.
Mozart-Requiem. Lacrimosa.
Es ist Freitag, ein grauer Jännertag 2001, es schneegrieselt vor den hohen Fenstern. Ich stehe neben meinem Kollegen Tom in einem SBB-Seminarraum in Zürich.
Vor 17 Jahren bin ich der Liebe wegen in die Schweiz gekommen, habe einen Schweizer geheiratet. Die Liebe ist verflogen, ich bin in der Schweiz hängengeblieben, vor allem, um meiner damals noch kleinen Tochter den Kontakt zum Vater zu ermöglichen. Wäre ich damals ungebunden und allein gewesen, hätte mein Heimweh mich gleich zurück nach Wien gezogen.
Nicht an zu Hause denken!
Personalbeurteilungsseminar in Zürich: Tom trägt seinen Part des Kurses vor, die Teilnehmer hören zu, lassen sich erklären, wie man Mitarbeiterbeurteilungen korrekt durchführt. Ich habe meinen Teil des Seminars geleistet, bin unkonzentriert, mache ein interessiertes Gesicht und warte auf die Pause.
Ich gehe zum Fenster, während die Kursteilnehmer den Raum Richtung Cafeteria verlassen, winke dem Kollegen zu, dass ich gleich nachkomme. Ich rufe in der Ordination des Hals-Nasen-Ohren-Arztes an, der mir vor ein paar Tagen einen Lymphknoten hinten am Hals entfernt hat, um zu schauen, ob die Geschwulst vorne am Hals Krebs ist oder nicht. Das Ergebnis wird für Anfang nächster Woche erwartet, »wenn Sie Glück haben, ist es schon am Freitagnachmittag da.«
Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich Krebs habe – schon seit dem ersten Besuch beim praktischen Arzt. Trotzdem zittere ich, als ich die Handytasten drücke. Die Unsicherheit ist schlimmer als jede Sicherheit. Seit Tagen hänge ich in der Luft zwischen Alltag und Arzt-Urteil, kann kaum schlafen und möchte mir meine Anspannung vor Dommi, der ich die Untersuchungen schließlich doch erklären musste, nicht anmerken lassen.
Endlich hebt eine der Sprechstundenhelferinnen ab. Das Schweizer Begrüßungsritual dauert heute nervtötend lange. »Ordination Doktor N. Grüessech, mein Name ist XY. Was kann ich für Sie tun?« »Guten Tag Frau XY.« Man muss das Gegenüber immer mit Namen ansprechen – Gott sei Dank habe ich den Namen der Ordinationshilfe verstanden. »Hier spricht Knoll.« Dann muss ich warten. Die Bernerinnen und Berner sind gemächliche Menschen, es vergehen ein paar Sekunden bis eine Antwort, quasi die Gegenbegrüßung, folgt. Erst wenn sie mich ebenfalls begrüßt hat, darf ich zu meinem Anliegen kommen. »Grüessech Frau Knoll.« Eigentlich müsste ich jetzt noch einmal ihren Namen sagen.
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