Bei der Abwägung von Dezentralisierung/Individualisierung und Zentralisierung/Standardisierung dominiert klassischerweise die Zentralisierung, weil dadurch die einheitliche Ausrichtung an den übergeordneten Zielen besser umgesetzt werden kann, und die Standardisierung, weil dadurch die Effizienz i. d. R. höher ist.
Bei der Abwägung von Markt- (eher objekt- bzw. marktorientierte Aufgabenbündelung) und Effizienzorientierung (eher funktionale-/verrichtungsorientierte Aufgabenbündelung) dominiert auf der operativen Ebene klassischerweise die Effizienzorientierung und das Streben nach Spezialisierung und funktionaler Exzellenz. 67
Die Basisorganisationseinheit sind klassischerweise Stellen. Diese orientieren sich zwar an typischen Mitarbeiterkapazitäten und -profilen, sollten aber sachorientiert und i. d. R. vom Personenwechsel unabhängig sein. Stellen sind klassischerweise längerfristig bzw. eine gewisse Dauer gestaltet – und über Stellenbeschreibungen dokumentiert.
In klassischen Strukturen gibt es meist irgendwo verrichtungsorientierte, funktionale Einheiten, weil bei stark standardisierten Leistungserbringungsprozessen fast immer irgendwann funktionale Spezialisierungseffekte eine dominante Rolle spielen. Die funktionale Abteilung mit Fachspezialisten ist klassischerweise die dominierende Stellenmehrheit im operativen Geschäft.
Der zentrale Mechanismus zur Koordination verschiedener, arbeitsteilig arbeitender Organisationseinheiten ist klassischerweise die Hierarchie (und damit verbunden die Weisung), weil davon ausgegangen wird, dass die übergeordnete Instanz den Abstimmungsbedarf zwischen den verschiedenen ausführenden Organisationseinheiten (er)kennt und entsprechend koordinierend eingreifen kann. Außerdem war es in der Vergangenheit häufig (aber nicht zwingend) auch so, dass der „funktionale Meister“ als übergeordnete Instanz fachlich kompetenter war und deshalb inhaltlich als eine Art „Qualitätssicherer“ agierte.
Das klassische Organigramm besteht aus Kästchen für Organisationseinheiten und vertikalen Weisungslinien als Ausdruck der Hierarchie. Die hierarchische Über- und Unterordnung über mehrere Ebenen wird z. T. (aber nicht zwingend) ausgeprägt „gelebt“ (pyramidale Führungsstruktur). Durch top-down-Steuerung (Push-Prinzip) erfolgt Koordination.
Dementsprechend sind Führungsaufgaben klassischerweise eher gebündelt, was aber Matrix-Strukturen und „dotted lines“ nicht ausschließt.
Das unterstellte Menschenbild ähnelt der „Theorie X“ von MCGREGOR. 68Demnach sind Menschen träge, haben tendenziell eine Abneigung gegen Arbeit, streben nach Sicherheit und scheuen sich vor Verantwortung. Daher müssen sie von außen (extrinsisch) gelenkt, geführt, motiviert und kontrolliert werden.
Kontrolle ist klassischerweise extrem wichtig, weil Regelabweichungen (bei standardisierten und optimierten Massenprozessen, die sich kaum verändern) zu geringerer Effizienz führen.
Die wenigsten Unternehmen sind heutzutage klassisch-hierarchisch in der hier vorgestellten Reinform organisiert. Insbesondere haben verhaltenswissenschaftliche Aspekte und Erkenntnisse in den letzten gut 100 Jahren – seit WEBER, TAYLOR und FAYOL – deutlich an Relevanz gewonnen. Von daher ist dies i. d. R. nicht als heutige Situation zu verstehen – auch wenn das von einigen „Agilitäts-Evangelisten“ manchmal so übertrieben dargestellt wird. Vielmehr ist dies die eine Seite des Organisationskontinuums. Die Kernaspekte bzw. Charakteristika der anderen, der agilen Seite werden im folgenden Kapitel 4vorgestellt.
Und natürlich gab und gibt es auch in klassisch-hierarchisch geprägten Unternehmen immer auch schon Aspekte bzw. Aufgaben, bei denen es weniger um Effizienz und Wachstum (im bestehenden Geschäft) und mehr um Innovation und Lernen ging bzw. geht. Von daher ist die vorherige Darstellung durchaus etwas zu einseitig. Der Konflikt von Effizienz und Innovation war stets da, ist lange bekannt und wird in der Organisationslehre typischerweise unter dem Begriff Ambidexterity, im Deutschen auch Ambidextrie bzw. Beidhändigkeit, diskutiert (vgl. Kapitel 5).
4 Charakteristika agiler Organisation
4.1 Überblick
Als „Gegenmodell“ zu den am Ende von Kapitel 3.4dargestellten Kernelementen klassisch-hierarchischer Organisation werden im Kapitel 4die Charakteristika einer agilen Organisationsgestaltung vorgestellt. Basierend auf den in Kapitel 2vorgestellten Entwicklungslinien und den zugrunde liegenden agilen Werten und Prinzipien, sowie als Extrakt der Kernelemente diverser agiler Ansätze, lassen sich die in Abbildung 16(„Agile Org Navigator“) dargestellten Charakterzüge agiler Organisation ableiten. 69Sie verdeutlichen, wie in agilen Unternehmen Prozesse (Prozessgestaltung) und Strukturen (Strukturgestaltung) gestaltet werden und wie sich die Akteure innerhalb dieses organisatorischen Rahmens koordinieren (Koordination).
Diese Charakteristika bilden das Fundament der verschiedenen agilen Organisationsansätze, die in den Kapiteln 6bis 8vorgestellt werden. Wie die gestrichelten Linien in Abbildung 16verdeutlichen, ist eine eindeutige und trennscharfe Kategorisierung der 15 Charakteristika kaum möglich und auch nicht gewollt. Die systematische Einordnung der Charakteristika in die 3 Kategorien zeigt jedoch deren primären Einflussbereich, zeigt Zusammenhänge auf und hilft bei der Analyse. Die einzelnen Elemente wie Selbstorganisation, Transparenz, iterativ-inkrementelles Vorgehen und cross-funktionale Teams lassen sich zwar losgelöst voneinander beschreiben, ihr volles Nutzenpotenzial erschließt sich jedoch erst durch eine integrierte Betrachtung und Kombination. Ebenfalls ist anzumerken, dass das Modell keine Anleitung liefert, was zu tun ist, es zeigt „lediglich“ die wesentlichen Elemente, die sich bei agilen Organisationsansätzen immer wieder finden lassen – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen. Die Charakteristika liefern ein Orientierungsgerüst für Mitarbeiter und Führungskräfte sowie alle organisatorisch Tätigen – z. B. Organisatoren, Organisationsentwickler und Agile Coaches – und sind so etwas wie die Leitprinzipien agiler Organisationsgestaltung. Der „Agile Org Navigator“ hilft dabei, im Agilitäts-Kosmos zu manövrieren. Er liefert Orientierung im agilen Begriffs- und Methodenwirrwarr.

Abb. 16: Agile Org Navigator
Die einzelnen Elemente agiler Organisationsgestaltung werden im Folgenden jeweils kurz vorgestellt und dann in den Kapiteln 6bis 10– und auch in den sonstigen Beiträgen im Buch (wenn auch z. T. mit leicht unterschiedlichen Bezeichnungen) – immer wieder aufgegriffen. Dadurch wird der Charakter agiler Unternehmen, nach und nach „mit Leben gefüllt“, klarer und greifbarer.
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