»Was aber nicht ausschließt, dass man bei dem Burgschreiber wirklich etwas gesucht hat. Vielleicht hängt es mit der Flucht des Rentmeisters zusammen?«
»Scriver?« Boing lacht grimmig. »Das war wohl eher Verrat. Keno Middens hat mir vertraulich erzählt, dass die Fräulein Maria und Anna den Rentmeister überredet hätten, vertrauliche Dokumente außer Landes zu bringen.«
»Mir hat er verraten, dass sein Onkel und die alten Häuptlinge Scriver angestiftet hätten. Er sollte alle Verträge und Dokumente verschwinden lassen, die ihre Rechte und Besitzungen zugunsten der Landesherrschaft beeinträchtigen.«
»Vielleicht steckt noch etwas anderes dahinter. Doktor Rimberti, wo würdet Ihr hier etwas Wertvolles verbergen?«
»Ich schlage vor, dass wir erst einmal alle Schränke und Schubladen durchsuchen, bevor wir uns entlegeneren Verstecken zuwenden.«
Unter einem Stapel Kleidung fand Boing einen Beutel mit einigen Münzen, auf die das Porträt von Graf Enno von Ostfriesland eingeprägt war. Das war vermutlich das Geld, das der unglückliche Herkens von Scriver erhalten hatte, um dessen Flucht möglichst lange zu verschweigen.
Rimberti entdeckte auf dem Fußboden bei der Tür einen winzigen Rest verschmiertes Blut. Rückwärts stieg er mit einer Kerze die Treppe hinunter und nahm jede Stufe konzentriert in Augenschein. Auf einer Stufe in der Mitte entdeckte er einen weiteren Blutspritzer. Der Gast von Burgschreiber Herkens musste nach seiner Bluttat noch einmal nach oben gekommen sein. Vielleicht hatte er seine Suche fortgesetzt.
Boing und Rimberti suchten den Schrank nach Geheimfächern ab und betasteten den Fußboden, ob unter einer Diele noch etwas versteckt war. Ein Dielenbrett unter Herkens’ Bett war locker. Der Drost nahm seinen Dolch und schob ihn vorsichtig in die kleine Spalte. Mühelos hob er das Brett an und zog es heraus. Auch das daneben liegende Brett konnte man nun wegnehmen.
Die beiden Männer schoben das Bett beiseite. Das Fach war leer.
»Hier hat jemand gefunden, was er gesucht hat«, bemerkte der Drost. Sie setzten ihre Suche fort. Eine weitere Diele war etwas locker, aber der Drost konnte sie nicht weiter bewegen.
Rimberti sah, dass über dem Bett ein kleines holzgeschnitztes Kruzifix hing. Er nahm es vorsichtig ab und drehte es um. Auf der Rückseite war mit Wachs ein Schlüssel befestigt.
Rimberti vergewisserte sich, dass der Drost noch mit den Fußbodenbrettern beschäftigt war, und steckte den Schlüssel ein. Er hatte einen guten Eindruck von Junker Boing, aber er war immerhin der von den ostfriesischen Grafen eingesetzte Drost, der seinen Herren gegenüber loyal sein musste. Er entschied, den Fund des Schlüssels erst einmal für sich zu behalten.
»Wir verständigen uns darauf, dass es ein Unfall war«, stellte der Drost fest.
»Das ist sicher am besten«, stimmte Rimberti zu. »Vorerst.«
»Vorerst«, bestätigte Boing.
Den Rest der Nacht lag Rimberti wach. Hatte der Mord an dem Sekretär etwas mit dem Verschwinden von Rentmeister Scriver zu tun? Oder hütete er ein anderes dunkles Geheimnis, das er mit ins Grab nehmen sollte? Erst gegen Morgen fiel Rimberti in einen unruhigen Schlaf, aus dem er mit lautem Klopfen geweckt wurde.
Noch ehe er sich aufrichten konnte, stand Fockena mit einer Waschschüssel vor ihm. »Macht Euch fertig«, ordnete er an. »Ihr werdet gleich Besuch bekommen.«
In Windeseile wusch Rimberti sich und kleidete sich an, als es schon zaghaft an die Tür klopfte.
»Ich setze unseren Gast in Eure Schreibstube, beeilt Euch«, wies Fockena ihn an.
Als Rimberti und Fockena kurze Zeit später in seine kleine Schreibstube traten, saß Fräulein Maria auf seinem Stuhl, während Junker Boing auf dem Stuhl von Rimbertis Schreiber Platz genommen hatte.
Maria sah ihn einen Moment konzentriert an und richtete dann das Wort an Rimberti: »Ich glaube, dass ich Euch vertrauen kann.«
Rimberti nickte. »Das könnt Ihr. Uns beiden.« Er deutete auf Fockena, der sich im Hintergrund hielt.
»Wir möchten nicht, dass die Grafen etwas von unserem Gespräch erfahren. Und ich weiß nicht, wer von meinen Bediensteten für sie arbeitet. Darum treffen wir uns hier«, erläuterte der Drost und nickte Maria zu.
Maria begann zaghaft: »Der Drost berichtete mir von den Ereignissen in der Nacht. Ihr wollt, dass die Sache als Unfall behandelt wird. Aber Ihr vermutet etwas anderes.«
»Junker Boing und ich wissen, dass noch jemand in der Nacht im Haus war. Er hat das Haus nach dem Sturz des Sekretärs verlassen. Er ist mit dem Schuh in das Blut des Sekretärs getreten und hat mehrere Abdrücke hinterlassen. Das waren nicht die Schuhe der Hausbesitzer.«
»Was vermutet Ihr?«
»Entweder hat jemand etwas in der Kammer des Sekretärs gesucht und ist dabei von ihm gestört worden, oder man wollte ihn zum Schweigen bringen.«
»Ich glaube, das Letztere trifft zu.« Fräulein Maria sah ihn unglücklich an. »Und ich glaube, dass wir beide, Ihr, lieber Doktor Rimberti, und ich mitschuldig sind am Tod dieses unglücklichen Mannes. Wir haben gestern über den Vertrag gesprochen, und viele Ohren haben zugehört. Aimo Herkens war damals der Schreiber, der das Bündnis zwischen Jever und Ostfriesland verfasst hat. Und das Eheversprechen. Er hat beide Schreiben aufgesetzt. Meine Schwestern und ich waren dabei.«
Sie bemerkte Rimbertis fragenden Blick. »Meine Schwester Dorothea ist vor einigen Jahren verstorben. Nun leben von uns Vieren nur noch Anna und ich. Die Umstände von Christophs Tod habt Ihr sicher schon erfahren. Wenn er noch lebte, wären wir nicht hier. Ich würde dann vermutlich auf einer Burg residieren, hübsche Blumenmuster sticken und Süßigkeiten essen, genauso wie meine Schwester Anna.«
»Habe ich schlafende Hunde geweckt?«, fragte Rimberti.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Fräulein Maria kleinlaut. »Ihr habt so deutlich von diesem Vertrag gesprochen, den uns der Graf damals weggenommen hat, damit wir nichts in der Hand haben. Wenn Königin Maria hier Nachforschungen anstellen lässt, könnten die Zeugen von damals auf einmal sehr wichtig sein.«
Rimberti hatte das Fräulein bei den bisherigen Begegnungen nie so viel reden gehört. Er nickte. »Besonders derjenige, der den genauen Wortlaut vielleicht noch in Erinnerung hat.«
»Mag sein«, knurrte Fockena. »Aber dann seid dennoch nicht Ihr am Tod des unglücklichen Mannes schuld, sondern der, der ihn von der Treppe gestoßen hat. Niemand anders.«
Maria schwieg. Dann begann sie mit bedachtsam gewählten Worten zu erzählen: »Meine beiden Schwestern und ich haben die meiste Zeit unseres Lebens wie Kinder gelebt. Wie Kinder, die sich schlecht behandelt fühlen. Immer haben andere für uns gedacht und entschieden.«
Sie warf Boing einen unschlüssigen Blick zu. Der nickte.
Maria fuhr fort: »Unsere Kindheit war eine unruhige Zeit. Fehden und Kriege. Unser Vater hat trotzdem gut für uns gesorgt. Aber er starb, als wir noch sehr jung waren. Die Regenten haben die Zeit nach Vaters Tod gut für ihre eigenen Interessen genutzt. Aber sie hatten nichts Schlechtes mit uns im Sinn und sorgten dafür, dass wir hier sorglos leben konnten. Graf Edzard war für uns wie ein Onkel. Nach dem Tod unseres Bruders Christoph besuchte er uns. Er wollte, dass die Cirksenas und die Wiemkens eine Familie mit einem Land werden. Meine Schwestern und ich waren naiv genug, das zu glauben.«
Sie schluckte. Das viele Sprechen schien sie anzustrengen. »Als die Grafen vor vier Jahren unsere Burg besetzten, wachten wir aus unserem Traum auf. Die Grafen haben uns hier in unserem eigenen Zuhause festgesetzt. Unsere Bediensteten und die Regenten mussten ihnen Treue schwören. Oben feierten sie das mit ihren Männern und den Regenten. Anna und ich mussten unten bleiben. Ihr Grölen und Trampeln höre ich heute noch. In dieser Nacht sind wir aufgewacht, zumindest ich. Aber da war es zu spät.«
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