»Das wundert mich«, antwortete Rimberti, »er sprach sehr gut von Eurem Vater. Mir schien, er hat den Wunsch, auch mit Euch in einer herzlichen Verbundenheit zu sein.«
»Herzlich?« In Middens Stimme lag Häme. »Aus seiner Sicht mag das sicher so sein. Er hat gut für sich gesorgt mit dem Familienbesitz. Fast alles wurde von unserem Großvater, Häuptling Tjardo Middens, auf ihn überschrieben. Mein Vater wurde mit dem Gut Garssum abgespeist, das wir von einem kinderlosen entfernten Verwandten erbten. Und der jüngste Bruder wurde mit einem kleinen Gut abgefunden. Er war kein Landwirt und hat alles heruntergewirtschaftet. Jetzt fristet er in einer kleinen Kate vor sich hin. Unwürdig.«
»Ihr habt viele Jahre im Mecklenburgischen gelebt?«
»Mein älterer Bruder sollte Garssum übernehmen. Für zwei Familien hätte es nicht gereicht. Immerhin konnte mir meine Familie so viel Geld mitgeben, dass ich dort nicht mittellos anfangen musste. Ich konnte Grund und Boden erwerben und habe im Auftrage eines Grafen ein großes Rittergut verwaltet. Dann kam die Nachricht, dass mein Vater und mein Bruder nur wenige Tage nacheinander verstorben sind. Ich habe mein Leben dort aufgegeben und bin wieder in die Heimat zurückgekehrt. Nur meinen treuen Vetter Tjard habe ich zurücklassen müssen. Er hat mir die ganzen Jahre treu gedient und sollte mit mir zurückkehren. Auf der Rückreise ist er zu Tode gekommen. Ihn hätte ich als zuverlässigen Freund gebrauchen können in diesem Sumpf.«
»Nun«, antwortete Rimberti, »wir werden anfangen, den Sumpf trockenzulegen.«
»Damit werden die Frösche aber nicht einverstanden sein«, entgegnete Keno Middens grimmig. »Und als Erster gehört mein Onkel Folpt dazu. Als junger Mann habe ich den alten Hero Wiemken noch erlebt. Ein kraftvoller Mann. Schon er hat gespürt, dass die Zeit der Häuptlinge zu Ende geht. Während unsere Häuptlingsfamilien untereinander heirateten oder ihre Männer sich gegenseitig totschlagen ließen, entstanden um uns herum große Herrschaften. Wir bluteten uns gegenseitig aus, während in Oldenburg, in Ostfriesland, Braunschweig und Lüneburg mächtige Grafschaften und Herzogtümer entstanden. Unsere Häuptlinge sind wie Kinder, die sich balgen. Die Großen bauen derweil ihre Herrschaften aus mit Städten, Kriegsheeren, Steuern, Eindeichungen und gelehrten Schulen. Und wenn sie damit fertig sind, werden sie uns schlucken. Ihr wisst, dass es so ist.«
Rimberti nickte. »Ihr habt einen Verdacht, was hinter der Flucht des Rentmeisters steckt?«
»Was wirklich in Ubbo Scriver vorgegangen ist, weiß ich nicht. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass mein Onkel gerade jetzt der Burg und den Fräulein seinen Besuch abstattet.«
»Was wollt Ihr damit andeuten?«
»In den Unterlagen, die Scriver entwendet hat, sind viele Verträge und Besitzurkunden enthalten. Und man kann gewiss auch ersehen, welche Steuern und Dienste die Häuptlinge ihrer Herrschaft schuldig geblieben sind in über 20 Jahren. Die Deiche sind nicht wieder aufgebaut worden nach der großen Antoniflut, und die wenigen Flächen, die wiederhergestellt wurden, hat man untereinander aufgeteilt. Vielleicht hätte es dem neuen Drosten nicht gefallen, diese Dinge zu lesen.«
»Ihr betreibt den Zusammenschluss Eurer Herrschaft mit den ostfriesischen Grafen?«
»Eigentlich wäre er schon erfolgt, wenn nur Enno Cirksena und seine Brüder die Eheversprechen erfüllt hätten. Nur einer von ihnen hätte das tun müssen. So hätten wir eine große Herrschaft begründet. Aber Männer wie mein Onkel wollen das verhindern. Bis zum letzten Atemzug.«
Spät am Abend stolperte der Burgschreiber Aimo Herkens ins Haus. Er bemühte sich, leise zu sein. Das alte Ehepaar, das ihm die beiden oberen Kammern vermietete, hatte sich schon öfter darüber beklagt, dass er zu laut sei, wenn er so spät und so angetrunken nach Hause kam.
So leise wie möglich schloss er die Tür hinter sich. Als Schreiber verdiente er, genauso wie sein Vorgesetzter, nicht schlecht für das, was er tat, und besonders für das, was er nicht tat. So konnte er sich zwei große möblierte Kammern in einem Haus in der Nähe des Marktplatzes leisten. Vorsichtig trat er auf, als er die Treppe nach oben stieg. Sie schien ihm heute noch steiler als sonst.
Vielleicht hätte er weniger trinken und ausgeben sollen in der Schänke. Aber die meisten Münzen, die Scriver ihm vor seiner plötzlichen Abreise zugesteckt hatte, waren oben sicher verwahrt.
Oben angekommen, tastete er nach seiner Tür. Plötzlich trat jemand aus dem Dunkel und stand dicht vor ihm. Er stieß ihn heftig vor die Brust. Herkens taumelte zurück. Seine Füße traten ins Nichts. Er ruderte mit seinen Armen, und seine Hände griffen ins Leere.
Als Rimberti die Augen öffnete, stand ein Mann mit einer brennenden Kerze vor seinem Bett. Junker Boing.
»Verzeiht, dass ich Euch störe«, begann dieser. »Aber ich glaube, Ihr solltet mitkommen.«
Kurze Zeit später standen die beiden im Flur eines Hauses unweit des Marktplatzes. Am Fuß der Treppe lag der Burgschreiber. Arme und Beine lagen verdreht am Körper. Eine kleine Blutlache hatte sich neben dem Kopf gebildet.
»Das musste ja so kommen«, stellte die Frau des Hauses fest. Neben ihr stand ihr Mann und nickte.
»Mein Mann hat Herkens so oft gesagt, dass er das mit dem vielen Trinken lassen sollte«, fuhr sie fort. »Das konnte ja nicht gut gehen.« Ihr Mann schüttelte den Kopf.
»Wir müssen die beiden Kammern oben vermieten«, erklärte die Frau weiter. »Die Geschäfte meines Mannes gehen nicht gut. Wir brauchen das Geld.« Der Mann nickte verhalten.
»Wir hörten nur, wie er nach Hause kam. Es war schon nach dem Läuten. Wenn man so besoffen ist, kann man nicht leise sein.« Ihr Mann schüttelte wieder den Kopf.
»Und dann kam lautes Gepolter. Darauf war es ruhig. Wir warteten einen Moment, ob er die Treppe wieder hochgehen würde. Aber es war ganz still. Da wussten wir, dass er nicht wieder aufstehen würde. Und dann sind wir sofort aufgestanden, um ihm zu helfen.« Ihr Mann nickte.
»Mausetot!«, fuhr die Frau fort. »Ihr seht ja selbst, wie er hier liegt. Sicher hat er alle Knochen und auch noch das Genick gebrochen. Das sahen wir gleich, dass wir nicht mehr helfen konnten. Darum habe ich meinen Mann geschickt, dass er die Wache holt.«
Bevor ihr Mann nicken konnte, zeigte Rimberti auf dessen Schuhe. »Die muss ich mir einmal ansehen.« Der Mann nickte und zog seine Schuhe aus.
»Kein Blut«, stellte Rimberti fest. Er wies Boing auf die Türschwelle hin. »Dort ist ein Teil eines blutigen Schuhabdrucks. Aber diese Schuhe waren es nicht.« Er wandte sich wieder an das Paar. »Stand die Tür auf?«
»Ja«, erklärte die Frau. »Die muss mit einem tüchtigen Ruck geschlossen werden. Und der als Letzter nach Hause kommt, muss den Balken einlegen, damit man die Tür nicht von außen öffnen kann. Vielleicht hat er, Gott sei ihm gnädig, in seinem Zustand vergessen, die Tür zu schließen. So ist es wohl gewesen.«
»Habt ihr sonst etwas Ungewöhnliches mitbekommen? Geräusche?«, fragte Rimberti weiter.
»Nein«, sagte die Frau.
Der Mann aber nickte. »Ja. Wir legen uns immer früh hin. Einmal bin ich aufgewacht, weil ich dachte, dass der Schreiber gerade die Treppe in seine Wohnung geht. Ich muss mich wohl verhört haben.« Seine Frau nickte.
»Ihr denkt auch, was ich denke«, stellte Boing von Oldersum fest, als er mit Rimberti im Wohnraum des toten Burgschreibers stand. Beide hielten eine brennende Kerze in der Hand, um den Raum durchsuchen zu können.
»Entweder hat der Einbrecher etwas gesucht und wurde überrascht …«, überlegte Rimberti.
»… oder es war ein Mörder, und der unglückliche Herkens wurde überrascht«, beendete Boing den Satz.
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