Der Burgschreiber sah zu Boden. »Es stimmt. Scriver ist nicht hier. Er ist schon im Morgengrauen aufgebrochen. Ich sollte alle hinhalten, bis es zu spät ist, ihm zu folgen. Er hat mir diesen Befehl im Auftrag von Graf Enno gegeben.«
»Graf Enno hat hier nichts zu befehlen!«, herrschte ihn der Mann an.
Der Schreiber wich noch einen Schritt zurück.
Die Stimme des Alten wurde wieder ruhig. »Du führst uns jetzt sofort in Scrivers Amtsstube. Und du erzählst alles, was hier passiert ist. Und mit ›alles‹ meine ich auch ›alles‹. Wenn du nur ein Wort zurückhältst, wirst du das bereuen.«
Der Burgschreiber nickte. Er öffnete ein Schubfach, holte einen schweren Schlüssel heraus und öffnete die Tür zur Amtsstube des Rentmeisters. Der Alte schob Rimberti vor und folgte ihm mit dem Schreiber. Am Fenster stand ein großer Tisch. Darauf befanden sich nur Schreibfeder, Tintenfass, ein sorgfältig gestapelter Stoß Papier und zwei Bücher. Zwei Schränke waren verschlossen, und in einem Regal lagen ebenso sorgfältig geordnet Stapel von Urkunden und Papieren.
Der ältere Mann nickte ihm zu.
»Der Rentmeister schickte mich gestern Abend fort«, entschuldigte sich der Burgschreiber. »Er gab mir frei. Im Morgengrauen weckten mich meine Wirtsleute. Rentmeister Scriver wartete vor der Tür und wollte mich sprechen. Er hatte zwei Satteltaschen mit Akten gepackt. Ich konnte nicht erkennen, was er mitnehmen wollte. Es war schon alles verpackt. Er sagte, dass er im Auftrag von Graf Enno und den Fräulein diese Unterlagen unbedingt wegbringen müsse. Und dass niemand wissen dürfe, dass er fort sei. Ich sollte allen Besuchern sagen, dass er heute ungestört arbeiten müsse. Das tat ich auch auf seinen Befehl. Verzeiht mir …«
Der Alte schnitt ihm das Wort ab. »Was hast du noch zu erzählen?«
»Ich sah mir den Schreibtisch des Rentmeisters an. Und ich warf auch einen Blick in die Schränke. Ich kann sie aufschließen, die Schlüssel sind hier.«
»Und du weißt, was er mitgenommen hat?«, erkundigte sich Rimberti.
»Ja, Herr. Die meisten Papiere und Urkunden hier in der Kanzlei habe ich sortiert und geordnet.«
»Nun? Was fehlt«, fragte der ältere Mann ungeduldig.
»Alle Aufzeichnungen über Steuereinnahmen und Zahlungen an den Hof. Alles, was Graf Enno und seine Männer im Namen der Fräulein eingezogen und konfisziert haben, ist hier aktenkundig. Außerdem gibt es Besitzurkunden über die Länder und Güter, die der Vater von Fräulein Maria und Fräulein Anna seinen Töchtern hinterlassen hat. Die fehlen auch.«
»Kennst du den Inhalt der fehlenden Dokumente?«, fragte Rimberti.
Der Burgschreiber zögerte. »Ich kenne den Inhalt vieler Vorgänge, aber bei Weitem nicht aller, die hier fehlen.«
»Gut«, fuhr Rimberti fort. »Deine Aufgabe in den kommenden Tagen ist, dass du über jede Urkunde, jeden Brief, jeden Vertrag, jedes Verzeichnis und was auch immer Scriver alles mitgenommen hat, ein Blatt anlegst. Und dort schreibst du auf, woran du dich erinnerst, und auch, woran du dich nicht mehr genau erinnerst. Aber notiere das dazu, damit wir das eine vom anderen unterscheiden können. Verstehst du, was ich will?«
Der Schreiber nickte.
Der alte Mann sagte: »Herkens, du weißt, ich kenne dich. Fast von Kind an. Und ich weiß, dass dein Vetter mit seiner Familie in Westrum lebt. Wenn du wegläufst und deine Herrschaft verrätst, bringst du Schande über ihn. Verstehst du das auch?«
Der Burgschreiber nickte stumm.
»Und jetzt lass uns allein und schließe die Tür.«
Eine kurze Zeit blieben die beiden Männer in der Amtsstube des Rentmeisters stehen. Dann knurrte der ältere: »Ubbo Scriver ist eine Kreatur, eingesetzt von den ostfriesischen Grafen. Ich habe ihm von Anfang an misstraut, aber die anderen Regenten wollten von meinen Verdächtigungen nichts wissen. Verzeiht.«
Er zögerte einen Moment und wandte sich Rimberti zu. »Ich weiß wohl, wer Ihr seid, aber Ihr kennt mich nicht. Ich bin Folpt Middens, Häuptling auf Sassenhusen. Ich bin einer der fünf Regenten des Jeverlandes. Edo Wiemken selbst hat mich noch in dieses Amt eingesetzt, und vermutlich bin ich der Einzige, der darauf noch etwas gibt. Sogar mein Neffe Keno ist den Schmeicheleien des Grafen erlegen. Sein Vater, mein älterer Bruder, stand noch treu zu Jever. Aber sein Sohn scheint ganz aus der Art geraten.«
»Ich bin ihm schon begegnet«, erwiderte Rimberti. »Er scheint sich viel von der ostfriesischen Herrschaft zu versprechen.«
»Eine Schande ist das. Aber ich kenne ihn kaum. Vor mehr als 25 Jahren ist er in auswärtige Dienste getreten. Seinem älteren Bruder sollte die Herrschaft zufallen, und sein Vater zahlte Keno eine großzügige Erbschaft schon zu Lebzeiten aus. Damit konnte er sich ein kleines Anwesen im Mecklenburgischen kaufen und in die Dienste des dortigen Hofes treten. Seinen Vetter Tjard, den Sohn unseres dritten Bruders, nahm er als Schreiber mit. Das ist eine lange Geschichte. Ich habe Keno in all den Jahren nicht wiedergesehen. Aber es war des Herrn Wille, dass mein älterer Bruder und sein erster Sohn vor über zwei Jahren an der Pest starben, und nun musste und durfte Keno doch sein Erbe antreten. Ich hatte gehofft, in ihm einen Verbündeten für die jeversche Sache zu finden. Aber ich habe ihn seit seiner Rückkehr nur zweimal flüchtig gesehen. Ich komme nur noch selten von Sassenhusen weg. Das Reisen fällt mir schwer, und ich sehe nicht mehr gut. Ich habe die Verantwortung für alles längst an meinen Sohn Jelto übergeben.«
Folpt Middens atmete schwer aus. Er zauderte einen Moment. Hatte er zu viel gesagt? Er war nicht ein Mann vieler Worte, aber nun galt es, dem Beauftragten des kaiserlichen Hofes einen Einblick in die verworrene Situation der Herrschaft Jever zu geben, an der seine eigene Familie nun einmal maßgeblichen Anteil hatte.
»Verzeiht, wenn ich zu viel geredet habe«, begann er.
»Ohne Euch stünde ich vermutlich immer noch in der Schreibstube des Sekretärs«, erwiderte Rimberti. »Alles, was Ihr mir zu sagen habt, hilft mir, einen Einblick zu bekommen. Ich kann Eure Hilfe gut gebrauchen – zumal uns jetzt der Verwalter abhandengekommen ist, mitsamt seinen Büchern und Unterlagen.«
»Ich werde mich jetzt zurückziehen, denn der Vormittag war anstrengend für mich. Wir haben ein Haus hier in Jever. Ihr seid dort jederzeit herzlich willkommen, Doktor Rimberti.«
Folpt Middens nickte ihm zu und verabschiedete sich dann.
Rimberti sah ihm hinterher. Vielleicht war die Sache der Fräulein Anna und Maria doch nicht ganz hoffnungslos, dachte er. Und dann war da noch etwas. Eine schemenhafte Erinnerung, die er im Moment nicht greifen konnte. In dem Moment, in dem er ihr nachspüren wollte, war sie auch schon weg.
Rimberti beschloss, den Vorfall dennoch mit Fräulein Maria zu besprechen. Aber auf halbem Wege kehrte er um. Das Fräulein saß vermutlich noch mit Graf Enno am Tisch, und ihre Schwester machte einen verwirrten Eindruck auf ihn, sodass er Anna nicht mit diesen Problemen behelligen wollte. Er machte sich auf den Weg in sein Quartier.
Als Rimberti in seine Stube kam, wartete schon jemand auf ihn: Keno Middens. Er hatte am Tisch Platz genommen, während Rimbertis Sekretär Kobus eine Abschrift des Buches anfertigte, in dem alle Besitzrechte und die jeweils zu erbringenden Leistungen im Jeverland verzeichnet waren.
Keno Middens erhob sich. »Wenn ihr diese Bücher nicht gestern schon an Euch genommen hättet, wären sie vermutlich auch mit dem Rentmeister verschwunden«, stellte er fest.
»Vermutlich«, erwiderte Rimberti.
»Herkens, der Burgschreiber, hat mir alles erzählt.«
»Da war er bei Euch gesprächiger als in meiner Gesellschaft. Ihr habt Euren Onkel gerade verpasst. Er ist eben in sein Haus zurückgekehrt.«
»Ich würde eher sagen, ich habe es genau abgepasst. Ich verspüre nicht den Wunsch nach einer Begegnung mit ihm.«
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