„Aber wenn ich es nicht aushalte, breche ich das Experiment ab und schnappe mir den ersten Flieger nach New York.“
„Einverstanden.“
„Was glaubst du, werde ich alles brauchen?“
Sie hob die Schultern und grinste breit.
„Alles. Nimm am besten deine ganze elektronische Ausrüstung mit. Handy, Playstation und so weiter.“
Sie sah ihn an und das Grinsen verschwand.
„Ich weiß es nicht, Schatz. Tu so, als würdest du einen ganz normalen Urlaub planen.“
„Das ist nicht dein Ernst, oder? Wetten, die haben Plumpsklos und keinen Empfang. Ich könnte genauso gut nach Afrika fahren.“ Er schüttelte den Kopf.
Zwei Tage später saß er mit gemischten Gefühlen im Flugzeug. Das Ganze war eine Schnapsidee, doch man konnte ja schlecht wieder aus dem Fugzeug aussteigen. Höchstens mit einem Fallschirm! Im Geist sah er sich schon beim Fallschirmspringen und vergaß ein wenig die Zeit. Es war angenehm und er konnte vergessen, warum er eigentlich im Flugzeug saß.
Die Landung war ein wenig holperig und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er folgte den anderen Menschen wie in Trance und stellte sich auf die Begegnung ein. Er hatte eigentlich keine Ahnung, was ihn erwarten würde.
James sah sich um. Er war nervös und er verspürte den Drang, sich hinter den Rücken der anderen Passagiere, die das Flugzeug mit ihm verlassen hatten, zu verstecken. Unsichtbar zu werden. In Chicago vergaß er tatsächlich oft, dass er ein Sioux war, aber bereits jetzt wurde ihm klar, dass das hier in South Dakota unmöglich sein würde. Also brauchte er sich gar nicht erst zu verstecken. Er straffte die Schultern und ging schneller. Trotzdem wanderten seine Augen nervös über die Gesichter der Menschen, die in der Ankunftshalle des Flughafens von Sioux Falls auf ihre Angehörigen warteten. Ihm war schlecht und er hatte keine Ahnung wie er Frank Stands Alone erkennen sollte. Seine Schritte wurden wieder langsamer, als er plötzlich ein Stück Pappe entdeckte, das von einer älteren Frau hochgehalten wurde. Sein Name stand darauf. James Powell. Gott sei Dank. Sein richtiger Name.
James blieb vor der Frau stehen. Ein kleiner Junge war bei ihr.
Als James ihn direkt ansah, senkte er schüchtern die Wimpern und trat hinter die Frau.
„Hallo, ich bin Ellen. Sarahs Mutter.“ Die Frau nickte.
James schluckte. Sarah war die Frau von Frank Stands Alone. Seinem Vater. Und der Junge? Er starrte ihn an. Das Schweigen dehnte sich in die Länge.
„Hallo.“ James gab sich einen Ruck.
„Wo ist Frank?“ Der Indianer auf den Fotos.
„Konnte nicht kommen.“ Ellen hob die Schultern.
„Dann kann ich ja auch wieder gehen.“ Es klang trotzig.
„Hm“, murmelte Ellen. Bei ihr klang es leidenschaftslos, unbewegt, als wäre es ihr wirklich gleichgültig, ob er bliebe oder wieder ginge. Wahrscheinlich war es auch so.
Sie standen in der Halle, um sie herum herrschte Stimmengewirr und hektisches Treiben, aber sie hörten es nicht. Sie starrten einander an und bewegten sich nicht. Zwölf Jahre. Ein anderes Leben. Eine andere Welt.
Sein Vater war also nicht da. Offenbar hielt er es nicht für nötig, sich an eine einfache Abmachung zu halten. Genau so hatte James es sich vorgestellt. Dabei war er noch nicht einmal richtig angekommen. Sein Inneres fühlte sich plötzlich krümelig an. Er fühlte sich schrumpfen. Immer kleiner werden. Seine Arme taten ihm weh. Der Rucksack war schwer. Das Gewicht drückte ihm ins Kreuz. Die Enttäuschung war größer als er je zugegeben hätte.
James sah der Frau in die Augen. Ihr Gesicht war so ganz anders als das seiner Eltern und Freunde. Es war dasselbe Gesicht, das ihm jeden Morgen aus dem Spiegel ansah. Und die Augen stellten jeden Morgen dieselbe Frage. Wer bist du, James?
James wollte eine Antwort auf diese Frage.
„Warum ist er nicht hier?“ Seine Worte verließen den luftleeren Raum um sie herum und erfüllten ihn mit Leben.
„Er konnte nicht kommen.“ Eine Antwort, die keine war.
Und das war es dann. Keine weiteren Erklärungen.
Wenig später saßen sie im Auto und fuhren nach Vermillion, einer kleinen Stadt südlich von Sioux Falls. Die Fahrt dauerte nur eine knappe Stunde und nachdem James sich vergewissert hatte, dass sein Schweigen niemanden zu stören schien, lehnte er sich im Sitz zurück und schaute aus dem Fenster. Die Reklameschilder und Felder flogen an ihm vorbei. Es gab nichts dort draußen, das er sehen wollte, dennoch konnte er den Blick nicht abwenden. Es war, als ob das Land ihn aufsaugen wollte.
Alles war fremd und doch so vertraut und bekannt. James schloss die Augen.
Dann waren sie da. James wurde Sarah vorgestellt. Er lernte die beiden Mädchen Dawn und Christine kennen und erfuhr, dass er Geschwister hatte. Die Mädchen waren noch klein, eins eigentlich noch ein Baby, und er hatte keine Ahnung, wie man kleine Kinder begrüßte. Befangen schüttelte er Kinder- und Frauenhände, blickte kurz in neugierige Gesichter und sah ebenso rasch wieder zur Seite. Er kam sich so unglaublich fremd vor, dass er am liebsten laut geschrien hätte. Gleichzeitig war er jedoch von allem so gefesselt, dass er kaum Luft bekam und nur mühsam atmen konnte, geschweige denn einen vernünftigen Satz herausbrachte. Also schwieg er, weil er wusste, dass niemand sich daran stören würde.
Frank kam immer noch nicht und irgendwann wurde das Schweigen seltsam. James langweilte sich. Er wusste nicht, wo er seine Sachen hinstellen sollte oder was sonst von ihm erwartet wurde. Auch Ellen war verschwunden. Sie war mit dem Jungen gegangen ohne sich zu verabschieden.
James bekam ein winziges Zimmer am Ende des Trailers zugewiesen. Es sah so als, als wäre es zusätzlich angebaut worden und dann irgendwie mit dem Trailer verschmolzen. Er knallte seinen Rucksack auf das Bett und dachte nach. Das Haus war klein und schäbig. Er hoffte, dass hier kein Tornado durchzog, denn diese kleine Streichholzschachtel würde sofort weggeblasen werden. Der Garten bestand nur aus Gras. Keine Blumen. Mutter würde hier bestimmt Rosen anpflanzen, dachte er. Er hatte Heimweh!
Es gab ein einfaches Abendessen aus Toast mit Käse, dann verzogen sich alle in die Betten. Wo war Frank? James war hier, um seinen Vater kennenzulernen und nicht irgendwelche Halbgeschwister!
Der Morgen war genauso trostlos. Es gab wieder Toast mit Käse und James fragte sich, wovon diese Familie sich sonst ernährte. „Habt ihr auch Marmelade?“, fragte er mürrisch. Sarah nickte und zauberte tatsächlich eine Art Gelee auf den Tisch. Sarah gab sich Mühe. „Willst du ein bisschen die Gegend sehen?“, fragte sie.
Nur raus hier, nur raus hier, waren seine Gedanken. Wieder atmen können! Er flüchtete fast in das schäbige Auto, einen rostigen Pickup, in dem auf der Ladefläche der Müll gesammelt wurde. Seine neuen Schwestern saßen neben ihm und schwiegen zum Glück. Schwestern! Das Wort rollte schwerfällig von einer Ecke seines Kopfes in die andere. Die Kleinere saß noch in einem Babysitz und ihr Kopf landete auf seiner Schulter, als sie nach kurzer Zeit einschlief.
Sarah fuhr kreuz und quer durch die Stadt und zeigte James, was es zu sehen gab. Wahrscheinlich nicht viel, wenn man aus Chicago kam. Sie blickte mehrmals in den Rückspiegel, um sein Gesicht zu betrachten. James sah seinem Vater unglaublich ähnlich, dachte sie amüsiert. Hohe Wangenknochen, schwarze Augen und pechschwarze Haare. Bei James waren sie allerdings kurz. Außerdem war der Junge hochgewachsen und schlank. Frank dagegen hatte in den letzten Jahren ziemlich zugelegt. Aber das konnte sie ihm nicht zum Vorwurf machen. Sie selbst war Schuld daran. Kochte zu gut. Glaubte alle Leute füttern zu müssen. Sich eingeschlossen. Sarah lächelte. James fing dieses Lächeln im Spiegel ein und wandte den Blick ab. Mist, zuckte Sarah zusammen. Natürlich dachte er jetzt, sie würde über ihn lachen. Sie seufzte. Das würde nicht leicht werden. Vor allem, weil Frank wieder in Schwierigkeiten steckte. Ausgerechnet jetzt. Als James erneut einen Blick in den Spiegel riskierte, sah er das ernste Gesicht einer Frau, die ihre Lippen fest zusammenpresste. Sie hatte Sorgen!
Читать дальше