Bei dem Gedanken an Keyaschante stiegen ihr Tränen in die Augen. Er war so warm, so zärtlich und immer so besorgt um sie gewesen. Er war immer freundlich den anderen gegenüber. Er war ein so guter Mensch, der nie ein schlechtes Wort über jemand anderen in den Mund nahm. Alle waren stolz auf ihn, aber lange nicht so stolz wie Tscheyesa-win auf ihn gewesen war.
In ihr stieg der Gedanke hoch, dass sie möglicherweise einen Fehler begangen hatte, weil sie Keyaschante für sich beansprucht hatte. Vielleicht war es ihr nicht bestimmt gewesen, sein Herz zu gewinnen. Falls es sein Schicksal gewesen war, nicht ihr Mann zu werden, dann hatte das Spinnenwesen wahrscheinlich ihre Heirat mit einem Fluch belegt und zu einem tragischen Ende verurteilt. Dieser Gedanke quälte Tscheyesa-win und brach ihr das Herz.
Die Schläfrigkeit umgab sie wie ein Nebel, und sie hatte das seltsame Gefühlt, dass ihr Flügel wachsen würden und sie sich damit hoch in die Lüfte erheben könnte, fort von diesen Platz und zurück in das Land ihrer vielen Freunde, in ein indianisches Dorf inmitten des hügeligen Landes. Dort wäre ein Tal mit kühlem, frischem Wasser, vielen Bäumen, langem Gras und … das Bild verblasste vor ihren Augen und sie fiel in einen Schlaf der Erschöpfung.
Am folgenden Morgen klopfte es an der Tür. Ein weißer Mann mittleren Alters, dessen Kleidung aus Rehleder bestand, betrat den Raum, nachdem er, auf sein leichtes Klopfen hin, hereingebeten worden war. Er sprach kurz mit der Frau, dann wandte er sich an Tscheyesa-win und redete sie in der Sprache der Sioux an. „Mein Name ist Reynolds, und ich arbeite für die Armee als Dolmetscher der Sioux.“
Als sie den Mann in ihrer Sprache sprechen hörte, wurden ihre Augen vor Erstaunen ganz groß.
„Die beiden Männer, die dich hergebracht haben, berichteten, dass sie dich zusammen mit einem Indianer gefunden hätten, und der Befehlshaber dieses Postens hat verfügt, dass du zu deinen eigenen Verwandten zurückkehren kannst … weißt du, wo sie sind?“
„Oh ja“, rief sie freudig, „ich gehöre zum Stamm von Chiefeagle, eine Gruppe der Teton Sioux!“
„Aber nein, Mädchen, ich meine nicht zurück zu den Indianern.“ Reynolds tat ihre Feststellung mit einer beiläufigen Handbewegung ab. „Du bist ein weißes Mädchen. Sie wollen dich deiner eigenen Familie zurückgeben.“
„Chiefeagles Familie ist meine Familie“, sagte sie beharrlich.
Der Dolmetscher zuckte mit seinen Schultern und verließ den Raum.
Erst am späten Nachmittag kehrte er zurück. Die Pionierfrau gab ihm eine Tasse Kaffee und die beiden unterhielten sich, wobei sie oft auf Tscheyesa-win schauten, die regungslos am Fenster stand. Schließlich wandte sich Mr. Reynolds in der Sprache der Sioux an das Mädchen: „Sprichst du unsere Sprache? Nein? Nun, wie dem auch sei, der Kommandant des Postens sagt, dass es nicht in Frage kommt, dass du dich wieder dem Stamm von Chiefeagle anschließt. Er kennt ein Ehepaar, das auf Geschäftsreise nach St. Louis unterwegs ist, und er hat mit ihnen vereinbart, dass sie dich mitnehmen. Mr. Callahan besitzt einen großen Laden in St. Louis, und das ist doch gar nicht mal so schlecht, Mädchen. Sie haben angeboten, sich um dich zu kümmern und eine richtige weiße Dame aus dir zu machen.“
„Ich will aber nicht dort hingehen. Warum wollen diese Weißen mich haben?“
„Nun, Mädchen, ich habe es so verstanden, dass ihre beiden Söhne erwachsen sind und das Haus bereits verlassen haben. Ihre einzige Tochter starb vor ein paar Jahren und ich glaube, sie wollen dich zu einem Mitglied ihrer Familie machen. Du siehst sicherlich nicht so aus wie eine Callahan und riechst auch nicht so, aber hübsch bist du auf jeden Fall.“ Reynolds fuhr mit dröhnender Stimme fort und erzählte Tscheyesa-win von allen Dingen, die sie in St. Louis erwarten würden.
In Tscheyesa-win dagegen wirbelten die Gedanken durch den Kopf. Wenn sie ohnehin von den Weißen festgehalten wurde, dann wäre es in jedem Fall besser, zu jemandem zu gehen, der sie auch eingeladen hatte. „Gut, ich werde gehen“, antwortete sie zögernd.
DAS GELÜBDE
In Keyaschantes Ohren hallten die Stimmen hunderter Vögel wider, als er nach einer Ewigkeit sein Bewusstsein wiedererlangte. Wie lange hatte er hier wohl gelegen?
Ein kalter Wind jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und dieses Zittern sandte Wellen des Schmerzes über das rohe und blutige Fleisch. Ein Sonnenstrahl, von den Bäumen etwas gefiltert, stach in sein Auge. Die Sonne stand im Osten. Er hatte also die ganze Nacht hier gelegen – oder waren es zwei? Sein Körper fühlte sich an als wäre eine Horde wilder Pferde darüber getrampelt und Keyaschante benötigte all seine Kraft und seinen Mut, um auch nur einen Finger zu heben.
Er schaute benommen auf seine ausgestreckten Arme und konnte sehen, dass er immer noch festgebunden war. Der feuchte Morgentau hatte die Stricke aus Rohleder durchnässt, und sie hingen ausgesprochen locker. Dies hatte er sicherlich dem Heiligen Mysterium zu verdanken, und seine spirituelle Kraft musste sehr stark sein, dass er überlebt hatte.
Mit seiner rechten Hand scharrte er die Erde um den Pflock weg. Trotz der Kühle des frühen Morgens, perlte ihm bei dieser Anstrengung der Schweiß in Bächen über den Körper. Mit dem Mut der Verzweiflung grub er beständig weiter, bis der Pflock sich endlich bewegte.
Mit letzter Kraft zog er ihn aus der Erde, und der graue Schleier der Bewusstlosigkeit legte sich wieder über ihn. Keyaschante kämpfte mit aller Macht gegen das Schwinden seiner Sinne an, denn er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Wenn die Sonne erst hoch genug stand, dann würden sich die Stricke wieder zusammenziehen und die Blutversorgung zu seinen Händen und Füßen unterbrechen.
Er arbeitete fieberhaft daran, seine andere Hand zu befreien, und als das gelang, versuchte er, sich mit seinen Armen aufzustützen. Die Anstrengung schickte wahre Wellen brennenden Schmerzes über seinen Rücken.
Es war unerträglich, und er fiel, am ganzen Körper zitternd, zurück auf seine Brust. Er schloss seine Augen, und mit äußerster Anstrengung brachte er seinen Körper in eine Position, in der es ihm möglich war, seine Füße zu befreien.
Inbrünstig dankte er dem Allerheiligsten Wesen für seine Hilfe, und gelobte, für seine Befreiung den Sonnentanz auf sich zu nehmen, wenn er es zurück in sein Dorf schaffte. Genauso dankbar war Keyaschante, dass er dem weisen Ratschlag seines Großvaters gefolgt war und seinen Körper bis zur höchsten Leistungsfähigkeit gestählt hatte.
Jedes Gelenk und jeder Muskel schmerzte von der langen Zeit der Bewegungslosigkeit, trotzdem kämpfte er sich schließlich mühsam auf die Füße. Keyaschante stolperte mit weichen Knien einige Schritte rückwärts und fiel dabei über die Leiche von Dürrer-Vogel. Er landete auf dem geschundenen Rücken und schnellte wie von der Tarantel gestochen auf den Bauch, um schwer schnaufend darauf zu warten, dass die stechenden Schmerzen aufhören würden.
Er schaute wie gebannt in Dürrer-Vogels tote Augen und konnte doch nichts anderes tun, als immer wieder auf diesen leblosen Körper zu starren. Als sich seine wirbelnden Gedanken beruhigten, konnte sich der junge Krieger in etwa die Geschehnisse zusammenreimen, die sich ereignet haben mussten.
„Tscheyesa-win!“ Der Gedanke an seine Braut veranlasste ihn aufzustehen. Sie war nirgendwo zu sehen. Aus den Spuren am Boden konnte er relativ einfach lesen, wie Dürrer-Vogel ermordet worden war. Schließlich entdeckte er auch die Stelle, an der zwei Männer ihre Pferde bestiegen hatten und fortgeritten waren, mit kleineren Fußspuren, die hinter ihnen hergestolpert waren.
Tscheyesa-win war also immer noch eine Gefangene!
Keyaschante taumelte zum Fluss und tauchte seinen schmerzenden Körper in die kühlen Fluten. Das Wasser reinigte die Wunden auf seinem Rücken und linderte die Schmerzen auf seinem geschundenen Körper.
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