"Dann müssen wir sie zerstören", stieß Maziroc impulsiv hervor. "Wir können unmöglich gegen einen Gegner Krieg führen, der über unbegrenzten Nachschub verfügt. Erst wenn diese Weltenbresche vernichtet ist, haben wir eine Chance, dieser Bedrohung Herr zu werden."
"Grundsätzlich hast du recht", stimmte Charalon ihm zu. "Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Die Damonen hatten monatelang Zeit, hier einzufallen und ihre Position zu sichern. Wir hatten noch Glück im Unglück, dass sich die Weltenbresche ausgerechnet in den Barbarenländern geöffnet hat. Die Barbaren haben ihnen erbitterten Widerstand entgegengesetzt, und anfangs ist es ihnen mehrfach gelungen, die Eindringlinge zu schlagen. Aber da immer neue Damonen durch die Weltenbresche herüber kamen, mussten auch die Barbaren sich schließlich geschlagen geben und immer weiter zurückziehen. Ohne ihren heldenhaften Widerstand jedoch wären wir alle von den Damonen wahrscheinlich schon überrannt worden, bevor wir die Gefahr überhaupt erkannt hätten. Wie Eibon vermutet hat, haben sie tatsächlich versucht, Boten zu schicken, um die übrigen Völker zu warnen und um Hilfe zu bitten, doch keiner von ihnen ist durchgekommen."
Charalon atmete tief durch, ehe er weitersprach: "Und aus genau diesem Grund hätte es auch keinerlei Sinn, wenn wir versuchen würden, uns bis zu ihnen durchzuschlagen. Die Barbaren mussten bereits bis weit in den Süden zurückweichen. Alles Land zwischen uns und ihnen wird von den Damonen beherrscht, und die Weltenbresche liegt im Zentrum des feindlichen Gebietes. Wir hätten nicht den Hauch einer Chance, uns bis dorthin durchzuschlagen. Wenn überhaupt jemandem, dann kann es nur Kenran'Del gelingen. Du hast selbst erlebt, wie er gewissermaßen aus dem Nichts auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden kann. Er wird versuchen, bis zu der Weltenbresche vorzudringen und sie zu zerstören. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu versuchen, selbst eine Verteidigung zu organisieren und die Damonen möglichst lange aufzuhalten, während wir darauf hoffen, dass ihm sein Vorhaben gelingt."
Maziroc zögerte ein paar Sekunden. Auch ihm fiel es schwer, alles, was er gerade gehört hatte, richtig zu verstehen und zu verarbeiten.
"Mir gefällt es nicht, dass wir uns so völlig von einem Wildfremden abhängig machen", wandte er dann ein. "Wenn man den Legenden um seine Person Glauben schenken darf, dann hat er stets nur uneigennützig geholfen, aber dennoch wissen wir so gut wie nichts über diesen Kenran'Del. Hat er wenigstens im Gespräch mit euch noch etwas mehr über sich selbst verraten?"
"Leider nicht", verneinte Charalon bedauernd. "Jede Frage in diese Richtung hat er sofort abgeblockt. Aber ich habe das Gefühl, dass wir ihm vertrauen können. Er ist sehr undurchsichtig, aber ich bin davon überzeugt, dass er uns helfen will. Was die Weltenbresche betrifft, so bin ich sogar davon überzeugt, dass tatsächlich nur er allein eine Chance hat, sich ihr unbemerkt zu nähern."
Maziroc nickte. Er wusste nicht, ob sie dem Fremden wirklich vertrauen konnten, dafür wussten sie noch zu wenig über ihn und seine Motive, aber auch er hatte das Gefühl, dass dieser Kenran'Del zumindest nicht ihr Feind war. Nachdenklich ließ er seinen Blick wieder über das Heer der Damonen wandern.
"Diese ... Kreaturen. Was sind sie? Sie haben uns eine Falle gestellt, was auf Intelligenz hindeutet, aber wenn ich mir ihr Aussehen und ihr momentanes Verhalten ansehe, dann habe ich eher das Gefühl, es mit irgendwelchen Tieren zu tun zu haben."
"Beides ist richtig", entgegnete Charalon. "Einzeln ist jeder dieser Damonen nicht nennenswert klüger als die meisten uns bekannten Tiere. Aber anders verhält es sich, wenn sie in Gruppen auftreten. Über eine kurze Entfernung hinweg existiert eine Art geistiger Verbundenheit zwischen ihnen, und je mehr von ihnen sich zusammenschließen, desto mehr gewinnen sie an Intelligenz."
Abwehrend hob er die Hände, als er den Schrecken in Mazirocs Augen bemerkte. "Keine Sorge, selbst zu tausenden können sie niemals so intelligent wie Menschen werden, aber sie allein stellen auch nicht die größte Gefahr dar. Im Grunde sind sie nur Waffen. Lebende und in begrenztem Maße sogar denkende Waffen, aber letztlich trotzdem nicht viel mehr als nur Werkzeuge."
Maziroc begann zu ahnen, worauf Charalon hinaus wollte, so unglaublich der Gedanke auch war.
Das heißt ... Du meinst ... sie sind nicht einmal unsere wahren Feinde?", hakte er ungläubig nach.
"Sie werden durch die gleiche Art geistiger Verbindung wiederum von anderen Wesen beherrscht, über die auch Kenran'Del kaum etwas sagen konnte", erklärte Charalon. "Aber es steht fest, dass diese Wesen uns lebend fangen wollen, zumindest uns Magier. Anscheinend kennen sie keine Magie. Deshalb fürchten sie gerade uns und wollen unbedingt mehr über uns herausfinden. Diesem Zweck dient diese ganze Falle. Diese Horde da draußen mag uns wie eine gewaltige Armee vorkommen, aber man will keinerlei Risiko eingehen. Noch einmal gut die doppelte Zahl Damonen ist bereits auf dem Weg hierher und dürfte in spätestens zwei Stunden hier eintreffen. Wenn wir eine Chance haben wollen, bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als vorher einen Ausbruch zu versuchen."
Maziroc antwortete nicht, doch er hoffte, dass man ihm nicht allzu deutlich ansah, wie blass er geworden war, als er seinen Blick erneut auf das Heer der Ungeheuer richtete.
*
Abgesehen von den Elbenkriegern, die noch schussbereit auf der Mauerkrone warteten, während ihre Pferde von anderen gehalten wurden, hatten alle bereits aufgesessen. Furcht, aber auch grimmige Entschlossenheit spiegelte sich auf den Gesichtern der Männer um Maziroc herum. Eibon hatte ihnen lediglich mitgeteilt, dass eine weitere, zahlenmäßig noch größere Armee der Damonen auf dem Weg zum Gehöft wäre, sodass sie alle wussten, dass diese Flucht ihre einzige Chance darstellte. Entweder gelang ihnen der Durchbruch, oder sie würden sterben oder in Gefangenschaft geraten, was den meisten wahrscheinlich noch als weitaus schlimmeres Schicksal erscheinen mochte.
Besonders wichtig war es, dass Maziroc die Flucht gelang. Er würde nicht mit den anderen zur Hohen Festung zurückkehren und von dort entweder nach Cavillon oder zu den freien Städten weiterreiten, um sie vor der Gefahr zu warnen und sie für vereinte Abwehrmaßnahmen um die Bereitstellung von Soldaten zu bitten. Nein, er war von Charalon mit einer anderen Mission betraut worden, die keiner der Elben übernehmen könnte, und für die er von allen menschlichen Teilnehmern an dieser Expedition am besten geeignet war.
Eskortiert von zwei Gardesoldaten, würde er nach Ravenhorst reiten, zur Heimat des Zwergenvolkes, um auch ihre Könige um Hilfe zu bitten. Jeder einzelne Zwergenkrieger stellte für eine Armee eine Bereicherung dar, doch galten die Zwerge als Eigenbrötler, die ihre Heimat nur selten verließen und den Kontakt mit anderen Völkern weitgehend mieden. Zudem schwelte schon seit Jahrhunderten gerade zwischen ihnen und den Elben ein permanenter Konflikt, deshalb hätte Eibon keinen seiner Späher als Boten schicken können, selbst wenn er von dem nur zwischen Maziroc und Charalon abgesprochenen Plan gewusst hätte.
Um was es bei diesem Streit ging, wusste wahrscheinlich schon niemand mehr genau. Gerüchten zufolge ging es um irgendwelche lange zurückliegenden Intrigen, mit deren Hilfe die Zwerge einst einen beträchtlichen Teil des Elbenwissens erbeutet hatten. Anderen Gerüchten nach sollte sich der ganze Streit irgendwann einmal daran entzündet haben, welches der beiden Völker bereits älter sei. Maziroc seinerseits vermutete ganz prosaisch, dass die Zwerge für den Geschmack der Elben einfach ein zu sinnenfreudiges, ausschweifendes Leben führten, während das Alte Volk mit seinen hohen ethischen Ansprüchen von den Zwergen als Langeweiler und halb vergeistigte Moralapostel betrachtet wurde. Fest stand jedenfalls, dass die beiden Völker aus irgendwelchen Gründen schon seit urdenkbaren Zeiten miteinander befeindet waren.
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