»Was gibt’s?«, rief Jessica ins Telefon und startete den Wagen.
»Himmelherrgott, was ist denn bei dir los?«, hörte sie Florians Stimme. »Bist du auf einem Truppenübungsplatz in einen Hinterhalt geraten und stehst unter Dauerbeschuss? Ich dachte, du wärst auf einem Bauernhof.«
»Es regnet«, sagte Jessica nur und versuchte mit der freien Hand, das nasse T-Shirt bestmöglich zu trocknen, indem sie es anhob und die heiße Luft von der Lüftungsanlage unter das Kleidungsstück blasen ließ. »Was willst du?«
»Kommst du gleich wieder ins Büro? Hier wartet jemand, der mit dir sprechen will.«
»Wer denn?«
»Der Mann heißt Michael Mühlbrunner. Er will sich nach dem Toten von der Alpe erkundigen. Ich konnte ihm nicht weiterhelfen. Hast du inzwischen von Ewe die Todesursache erfahren? Konnte die Rechtsmedizin den Toten identifizieren?«
»Ja, aber das bereden wir später. Jetzt habe ich ein ganz anderes Problem«, sagte Jessica und seufzte verzweifelt. »Ich kann so nicht ins Präsidium kommen und muss erst nach Hause. Ich brauche eine halbe Stunde bis Kempten und mindestens noch einmal so lang, wenn ich nach Hause fahre, um mich umzuziehen. Ich bin durch und durch nass.«
Florian schwieg.
»Hast du mich verstanden, Florian?«, fragte Jessica ungehalten. »Mein T-Shirt klebt an meinem Körper und trieft vor Nässe. So kann ich niemandem unter die Augen treten. Meinst du, dieser Herr Mühlbrunner wartet eine ganze Stunde auf mich?«
Eine lange Pause entstand.
»Hallo? Bist du noch dran?«
Noch immer sagte Florian nichts, doch Jessica meinte, einen Laut zu hören. Es klang wie ein kurzes, unterdrücktes Lachen. Dann wurde es still. Sie hörte ihn förmlich grinsen.
»Kannst du Herrn Mühlbrunner bitten, auf mich zu warten?«, versuchte sie es erneut und wendete das Auto auf dem Hof vor dem Bauernhaus. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Kempten und endlich aus den nassen Klamotten heraus.
»Ach, der wird schon warten. Hast du etwas dagegen, wenn ich auch kurz nach Hause komme? Es wäre mir eine Freude und ein unbändiges Vergnügen, dich in deinem nassen T-Shirt zu sehen … ähm … dir aus dem nassen T-Shirt zu helfen, meine ich.« Jetzt lachte er laut.
»Da habe ich eine bessere Idee«, schlug Jessica vor, lenkte ihren Wagen durch das große Hoftor auf die Straße und gab Gas. »Du scheinst gerade Zeit zu haben. Fahr du bitte nach Hause und hol mir etwas Trockenes zum Anziehen. Wir treffen uns in einer halben Stunde in der Dienststelle.«
»Es ist mir egal, wo wir uns treffen. In jedem Fall werde ich mir die Sache ganz genau ansehen und darauf achten, dass du dich aus- … ähm … umziehst. Ich will schließlich nicht, dass du dich erkältest.«
*
»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, Herr Mühlbrunner. Mein Name ist Hauptkommissarin Grothe. Ich untersuche den Todesfall auf der Kluxhagener Alpe«, stellte Jessica sich vor und reichte dem Mann ihre Hand, der geduldig mit einer Tasse Kaffee in ihrem Büro auf sie gewartet hatte.
»Wer war der Mann, den Sie bei Georg gefunden haben? Wie ist das passiert? War es ein Unfall?«, wollte ihr Besucher wissen, erhob sich kurz von dem Stuhl, auf dem er saß, und erwiderte ihren Gruß. »Haben Sie ihn bereits identifiziert?«
»Viel kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Mühlbrunner. Die Ermittlungen laufen noch«, erklärte die Hauptkommissarin, setzte sich hinter den Schreibtisch ihres Kollegen Kern, der immer noch im Krankenstand war, und sah den Landwirt aufmerksam an. Michael Mühlbrunner war ein großer Mann Anfang 40 mit etwas zu langem, ungekämmtem Haar und einem Vollbart. Von seinem Gesicht war wenig zu erkennen, doch seine dunklen Augen wirkten freundlich. »Von Ihnen würde ich zuallererst gerne wissen, was Sie zu mir führt. Haben Sie Informationen, den Todesfall betreffend?«
Michael Mühlbrunner stellte seine Tasse auf den Schreibtisch und rieb seine Hände an seiner Jeans ab, bevor er sie sorgsam faltete, die Unterarme gegen die Schreibtischkante lehnte und sich vorbeugte. »Meine Familie betreibt einen Hof mit Milchwirtschaft im Oytal in der Nähe von Oberstdorf. Seit ein paar Tagen vermissen wir einen unserer Stallburschen. Zuerst haben wir uns nichts dabei gedacht, denn er war schon öfter mal zwei Tage unentschuldigt nicht da. Aber als wir von dem Todesfall auf der Alpe gehört haben …« Er seufzte. »Jedenfalls machen wir uns große Sorgen.«
»Haben Sie auch Rinder auf der Kluxhagener Alpe?«, wollte Jessica wissen. »Ich habe herausgehört, dass Sie Georg Bruchstein, den Älpler, kennen. Glauben Sie deshalb, es könnte sich bei dem Toten um Ihren vermissten Stallburschen handeln? Wie haben Sie von dem Toten erfahren?«
»Wir kennen Georg sehr gut. Er kommt direkt vom Nachbarhof, wir sind zusammen aufgewachsen«, erklärte Mühlbrunner. »Seine Frau hat uns von dem Unglück berichtet. Unsere Schumpen stehen allerdings auf der Rappenalpe, nicht bei Georg.«
»Schumpen?«
»Sie sind nicht von hier. Das hört man«, stellte der Landwirt belustigt fest. »Schumpen sind Jungkühe, die noch nicht gekalbt haben und deshalb noch keine Milch geben. Um das Oytal und Stillachtal herum steht fast ausschließlich Galtvieh auf den hohen Alpen. In dieser Gegend gibt es fast nur Galtalpen, wenig Sennalpen. Die liegen auch nicht so hoch im Berg. Sennalpen verarbeiten Milch in Käse, aber das Galtvieh gibt ja noch keine Milch«, erklärte er und lachte, als Jessica ihn fragend ansah und anschließend etwas in ihr Smartphone tippte.
»Wie schreibt man …«
»G-A-L-T«, half Mühlbrunner aus. »Einige Älpler haben eine oder zwei Milchkühe und eventuell noch kleine Kälber mit auf ihren Galtalpen. Um etwas Milch für den Eigenbedarf zu haben.«
»Ja, verstehe. Wie Henriette«, stellte Jessica fest und machte sich weitere Notizen. Den Gesichtsausdruck von Herrn Mühlbrunner, der augenblicklich von freundlicher Heiterkeit in ärgerliches Unbehagen wechselte, bemerkte sie nicht.
Erst als er mit verändertem Tonfall fragte: »Henriette ist auf Georgs Alpe?«, schaute sie auf.
»Sie kennen Henriette?«
Michael Mühlbrunner machte eine wegwischende Bewegung mit seiner rechten Hand und brummte: »Jeder in der Gegend kennt Henriette. Mich wundert nur, dass Rothausen sie auf die Alpe schickt. Die Kuh ist doch sein Allerheiligstes.«
»Verstehe«, sagte Jessica wieder, obwohl sie das Gefühl hatte, gar nichts mehr zu begreifen. »Kommen wir zurück zu dem Toten. Wie heißt denn der junge Mann, den Sie auf Ihrem Hof vermissen?«
»Viktor Weixler.«
»Mir ist einiges noch nicht ganz klar, Herr Lorenz.« Hauptkommissar Forster saß zusammen mit seinem Kollegen Berthold Willig in einem der Besucherräume der JVA Kempten dem Verdächtigen im Mordfall Michelsbach gegenüber und musterte ihn neugierig.
Der junge Mann wirkte weder eingeschüchtert noch verängstigt. Er saß mit vor der Brust verschränkten Armen zurückgelehnt auf seinem Stuhl und starrte den Hauptkommissar ablehnend an. »Wo ist denn die hübsche Hauptkommissarin?«, wollte er wissen. »Die hat mir viel besser gefallen als Sie. Die Kleine war heiß. Sie mag ich nicht.« Er hatte gerade noch so viel Anstand, nicht auf den Boden zu spucken, hob aber verächtlich die Oberlippe und zeigte Florian Forster seine Zähne.
»Das steht Ihnen natürlich frei, Herr Lorenz«, bemerkte der Hauptkommissar und hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Junge Männer um die 20 litten fast immer unter extremer Selbstüberschätzung und hielten sich in Bezug aufs andere Geschlecht meist für unwiderstehlich. Er war auch einmal jung gewesen. Nicht dass er jetzt alt war oder weniger attraktiv oder auch nur einen Hauch seines unwiderstehlichen Charmes eingebüßt hätte. Er war einfach erfahrener als vor 20 Jahren und vielleicht etwas subtiler in seiner Arroganz und Überheblichkeit. »Tut mir leid«, brachte Florian noch heraus, bevor er doch grinsen musste. »Sie erinnern mich an jemanden, den ich gut kenne.«
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