»Ach ja?«, fuhr Jessica aufgebracht dazwischen. »Etwa, weil der Alphütten-Fall so gut wie abgeschlossen ist? Trauen Sie mir die Aufklärung eines Mordes nicht zu, Herr Götze? Vielleicht, weil Hauptkommissar Kern gerade nicht da ist? Ich protestiere aufs Schärfste gegen diese Entscheidung und bitte Sie, mir meinen Fall nicht wegzunehmen. Ich kann den auch problemlos alleine aufklären.«
»Tut mir außerordentlich leid, Frau Grothe, aber meine Entscheidung steht fest. Sie bekommen den Fall von Forster und er Ihren.« Götze stand auf und lief um seinen Schreibtisch herum. »Die Akte zu Ihrem Fall ist übrigens ganz ausgezeichnet angelegt. Ordentlich, sehr ausführlich und trotzdem übersichtlich und gut strukturiert. Daran sollten Sie sich mal ein Beispiel nehmen, Forster.« Götze lachte etwas zu laut. Weil niemand in sein Lachen einstimmte, verstummte er verlegen, ging zur Tür und öffnete sie. »Nun aber schnell wieder an die Arbeit. Morde klären sich nicht von allein auf.«
»Hast du eine Ahnung, was das soll?« Florian stieg neben Jessica die Stufen zum ersten Stock des Polizeipräsidiums hinauf und hatte Mühe, mit seiner Freundin Schritt zu halten. »Eine Erklärung wäre schön gewesen, findest du nicht?«
»So?« Jessica blieb stehen und fuhr zu ihm herum. »Es hat dich gerade nicht interessiert, warum Götze die Entscheidung getroffen hat. Also brauchst du jetzt auch nicht so zu tun.«
Florian Forster hob beschwichtigend beide Hände und trat vorsorglich einen Schritt zurück. Dass er in der einen Hand den grünen Ordner hielt, den Götze ihm gegeben hatte, war in dieser Situation nicht sehr hilfreich. Jessica starrte den Pappordner mit finsterem Gesicht an, und er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wieso bist du auf mich sauer?«, fragte er leicht verärgert. »Ich habe nichts getan.«
»Genau das ist das Problem. Du tust nie etwas!«, fauchte sie ihn an, drehte sich auf dem Absatz um und stieg weiter die Treppe hinauf.
Florian lachte abfällig. »Hätte ich etwa auch ›aufs Schärfste protestieren‹ sollen?«, äffte er sie nach. Dann seufzte er. »Entschuldige bitte. Das war unpassend.«
Jessica blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihm um. »Schick mir später bitte Berthold mit den Unterlagen zum Alphütten-Mord in mein Büro. Dann kann ich mich in meinen neuen Fall einarbeiten. Falls das überhaupt noch nötig ist«, sagte sie und ließ Florian stehen.
Der Himmel verfinsterte sich zusehends. Die Luft war feucht, schwer und drückend heiß. Die Gipfel der Allgäuer Alpen umhüllte eine schwarze Schicht aus turmhohen Gewitterwolken.
Es dauerte nicht mehr lange, bis das Unwetter das Tal erreichen würde, doch noch war es windstill und unerträglich schwül.
»Guten Tag, Kripo Kempten, Hauptkommissarin Grothe«, stellte sich Jessica vor, als die kunstvoll mit kleinen bunten Glasscheiben verzierte Tür sich nach mehrmaligem Klingeln endlich öffnete und eine Frau in einer karierten Schürze ihr gegenüberstand. Jessica hielt der Frau ihren Dienstausweis entgegen. »Frau Rothausen?«
Diese nickte zögernd. Jessica schob ihren Dienstausweis zurück in die Hosentasche und bat darum, eintreten zu dürfen.
»Natürlich. Bitte kommen Sie herein. Was ist denn passiert?« Gertrud Rothausen führte Jessica in die gemütliche Wohnküche. Am großen Esstisch saßen zehn Personen und aßen zu Mittag. Es duftete nach frischem Kartoffelsalat und Würstchen. »Das ist Hauptkommissarin Grothe von der Kemptener Polizei«, stellte sie Jessica vor und zeigte auf den ältesten der Männer am Tisch. »Das ist mein Mann Karl.«
Karl Rothausen sah Jessica missmutig an, legte seine Gabel sorgsam auf dem Tellerrand ab und erhob sich grummelnd. Anstatt die Hauptkommissarin zu begrüßen, blickte er sich langsam in der Runde um. »Wer von euch depperten Trotteln hat die Polizei gerufen? Der kleine Brand in der Scheune ist zwar ärgerlich, aber mit Sicherheit kein Fall für die Kripo. Das klären wir hier schon selbst, werte Frau Kommissarin. Danke, aber Sie können gleich wieder gehen. Dann sind Sie noch vor dem Unwetter zurück in der Stadt.«
»Es hat gebrannt bei Ihnen?«, fragte Jessica verwundert. Sie machte keine Anstalten, die Küche zu verlassen. »War es Brandstiftung?«
Karl Rothausen sank seufzend auf seinen Stuhl zurück und verdrehte genervt die Augen. »Wenn Sie nicht wegen des Feuers hier sind, was wollen Sie dann? Ist eine unserer Kühe stiften gegangen und hat Nachbars Garten verwüstet?«
Einer der jungen Männer am Tisch lachte, verstummte jedoch augenblicklich, als Karl Rothausen streng zu ihm hinübersah.
»Ich habe von dem Älpler Georg Bruchstein erfahren, dass ein Großteil der Rinder auf seiner Alpe von Ihrem Hof stammt. Ist das richtig?«, wollte Jessica wissen.
Karl Rothausen erbleichte und fragte erschrocken: »Ist etwas mit Henriette?«
»Wer ist Henriette?« Jessica sah ihn verwirrt an. »Es geht um den Toten, den wir vor einer Woche auf der Alpe gefunden haben. Wird denn eine Henriette vermisst?« Sie dachte angestrengt nach. In den Unterlagen von Florian war ihr dieser Name nicht untergekommen. Doch Florian war häufig nicht besonders gründlich und ließ für ihn unwichtige Details in seinen Berichten oft einfach weg. Vielleicht hieß die Frau des Älplers Henriette?
Der Gesichtsausdruck des Hausherrn wechselte von Erschrecken in absolutes Entsetzen. »Sie haben einen Toten auf der Alpe gefunden?«, brachte er heiser heraus und sah zu seiner Frau Gertrud hinüber, die beide Hände vor ihren Mund schlug und die Hauptkommissarin angstvoll anstarrte.
»Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wüssten davon. So etwas spricht sich doch eigentlich immer schnell herum«, erklärte Jessica. »Der junge Mann, den wir tot aufgefunden haben, heißt Viktor Weixler. Entgegen unserer anfänglichen Vermutung, er sei in einen Felsspalt gestürzt und tödlich verunglückt, können wir nun mit Sicherheit sagen, dass er ermordet wurde. Deshalb bin ich hier.«
»Aha«, sagte Karl Rothausen nach kurzem Zögern und klang wieder abfällig. Von seinem Entsetzen war nichts geblieben. »Den Herrn kenne ich nicht. Tragisch, dass er tot ist, aber damit hat hier niemand etwas zu tun. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, werte Frau Kommissarin, aber wir würden gern weiteressen. Die Arbeit auf dem Hof macht sich nicht von allein und ein Gewitter zieht auf. Die Tiere müssen in die Ställe.«
Jessica ließ sich nicht so leicht hinauskomplimentieren, bestand auf eine Einzelbefragung aller anwesenden Personen und zog damit erneut den Unmut des Hausherrn auf sich.
Viel Information bekam sie nicht. Die zehnköpfige Gruppe, von denen zwei die Nachbarn der Familie Rothausen waren, schien eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein. Niemand konnte ihr die merkwürdige Reaktion von Karl Rothausen erklären. Niemand wusste Näheres zu dem angeblichen Feuer und niemand kannte Viktor Weixler, den Toten aus der Felsspalte.
Immerhin erfuhr Jessica, dass es sich bei besagter Henriette um eine preisgekrönte Kuh handelte, die zusammen mit ihrem Kalb als einzige Milchkuh den Sommer auf der Kluxhagener Alpe bei Georg Bruchstein verbrachte. Eine der Töchter von Karl Rothausen zeigte Jessica stolz die vielen gerahmten Auszeichnungen von Henriette, die im Büro eine ganze Wand zierten.
Als Jessica nach über einer Stunde schließlich das Bauernhaus verließ, tobte der Sturm direkt über dem Hof. Der heftige Regen peitschte ihr ins Gesicht, und der Wind riss an ihrem T-Shirt, das nach wenigen Metern komplett durchnässt war und ihr unangenehm am Körper klebte. Sie wischte sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht, zog ihren Autoschlüssel aus der Hosentasche, betätigte noch im Laufen die Zentralverriegelung, riss die Tür auf und sprang ins Auto.
Das Smartphone auf dem Beifahrersitz begann im gleichen Moment zu klingeln, in dem die Tür zuknallte. Der Regen schlug so heftig auf das Auto nieder, dass man es unter dem permanenten Dröhnen kaum hörte.
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