»Wissen Sie, warum er sich so verhalten hat?«, sagte Carla.
Jan Römer schüttelte den Kopf. Seine Augen wirkten müde. »Es ist mir ein Rätsel.«
»Haben Sie gar keinen Kontakt mehr seitdem?«
»Nichts. Kein Telefonat, keine Mail, keine SMS.«
»Hat Ihr Bruder Feinde?«
»Nicht dass ich wüsste. Nico ist der typische einsame Wolf. Er war schon als Kind so. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ihn jemand umbringen sollte. Haben Sie eine Idee, wer der Tote sonst noch sein könnte?«
»Laut einer Zeugenaussage haben zwei Rechtsextreme nach Ihrem Bruder gesucht. Wissen Sie, ob er in der Szene verkehrt?«
»Nico ein Rechter? Niemals!«
»Ich weiß dazu nichts«, sagte Ljudmila Römer, die sich anscheinend durch Carlas Blick zu einer Antwort aufgefordert fühlte. »Ich kenne Nico kaum. Wir sind uns nur ein paarmal begegnet.«
»Wo waren Sie diese Nacht gegen halb eins?«, sagte Carla zu Jan Römer.
»Warum sollte ich meinen Bruder ermordet haben?«, fragte er zurück.
»Immerhin waren Sie zerstritten.«
»Er war in seiner Kanzlei«, sagte Ljudmila Römer.
»Um diese Uhrzeit?«
»Er musste sich auf eine Verhandlung am Montag vorbereiten und wollte den Sonntag frei haben.«
»Das stimmt«, sagte Jan Römer. »Meine Frau und ich haben kurz nach Mitternacht telefoniert. Ich hatte ein paar Fragen wegen einer Akte.«
Ljudmila Römer stand auf und setzte sich zu ihrem Mann auf die Sessellehne.
»Ich arbeite als Anwaltsgehilfin in der Kanzlei meines Mannes«, sagte sie, während sie einen Arm um seine Schultern legte. »Wir sind beide Juristen und haben uns im Studium kennengelernt. Als unsere Tochter Inga geboren wurde, bin ich aus meinem Beruf ausgestiegen. Damit ich mehr Zeit für das Kind habe.«
»Wie lange haben Sie miteinander telefoniert?«, sagte Carla.
»Eine Viertelstunde vielleicht«, sagte Jan Römer, nachdem er sich der Zustimmung seiner Frau vergewissert hatte.
»Handy oder Festnetz?«
»Beide Festnetz.«
»Das lässt sich ja leicht überprüfen. Das war’s fürs Erste. Sie hören von mir.«
Carla ging zur Tür.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie der Anwalt seine Hände vors Gesicht hielt und weinte.
Als Nora Bentheim am Sonntagmittag die Tür zu ihrem Häuschen in Schönermark bei Gransee aufschloss, war sie abgehetzt. Sie hätte längst zu Hause sein müssen, doch wegen des Sturms, der Sonnabendnacht über Brandenburg hinweggefegt war, hatte sich der ICE aus Hamburg verspätet, woraufhin sie ihren Regionalzug verpasst hatte. Nun drohte ihr gesamter Tagesplan durcheinanderzugeraten. Als wäre das bisherige Wochenende nicht schon anstrengend genug gewesen!
Sie stellte ihren Koffer im Flur ab, hängte ihren Mantel an die Garderobe und holte ihr Handy aus der Hosentasche. Kein Anruf, keine SMS, nichts. Sie scrollte noch einmal zu der Nachricht, die sie in der Früh verschickt hatte. »Guten Morgen, mein Schatz. Mama kommt zum Bus. Freue mich!!«
Es war seltsam, dass Emma nicht wenigstens ein Smiley gesendet hatte.
Sie schleppte ihren Koffer in den ersten Stock ins Schlafzimmer, warf ihn aufs Bett und begann, ihn auszupacken. Vermutlich hatte sich Emma über die Nachricht geärgert.
»Das ist voll uncool, Mama«, hatte sie vor der Abreise geschimpft. »Du brauchst mich nicht abzuholen. Ich fahre mit dem Fahrrad!«
Doch Nora wollte Emma am Bus wenigstens begrüßen. Sie konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen, und das sollte auch mit einem persönlichen Empfang gewürdigt werden.
Sie nahm ihre Seminarunterlagen aus dem Koffer und stapelte sie auf dem Bett, um sie später zu ihrem Schreibtisch zu bringen. Dann legte sie die noch sauberen Kleidungsstücke sorgfältig in den Schrank und begab sich ins Bad, um die Schmutzwäsche in einen Korb zu werfen. Es blieben ihr noch weniger als zwei Stunden, um den Hund abzuholen, eine Runde im Wald zu joggen und das Essen vorzubereiten. Thailändische Gemüsepfanne mit Tofu, Emmas Lieblingsgericht, alles frisch zubereitet selbstverständlich. Seit ihre Tochter Vegetarierin geworden war, hatte sich auch Nora umgestellt. Am Anfang war es ihr zwar schwergefallen, doch sie hatte sich an die neue Kost gewöhnt und fühlte sich seitdem wesentlich fitter.
Sie schlüpfte in ihre Sportklamotten und band ihre Laufschuhe zu. Bevor sie das Haus verließ, sah sie noch einmal auf ihr Handy. Keine Nachricht auf dem Display.
Als sie eine Stunde später vom Joggen zurückkam, perlte Schweiß auf ihrer Haut.
Max drängelte sich vor ihr in den Flur. Die freundliche ältere Nachbarin, die ihn zwei Tage lang beaufsichtigt hatte, hatte ihn bestimmt wieder so gemästet, dass er den Waldlauf vermutlich nötiger gehabt hatte als Nora, die sich einfach nur ein strapaziöses Wochenende von der Seele hatte rennen müssen.
Bevor sie dem Hund einen randvoll gefüllten Wassernapf hinstellte, schaute sie ein weiteres Mal auf ihr Handy. Kein Anruf, keine Nachricht, nichts.
Sie musste schmunzeln. Vermutlich war Emma überhaupt nicht in der Lage, eine SMS zu schreiben, weil ihr Akku leer war und es im Bus keine Möglichkeit gab, ihn aufzuladen. Sicher, Nora hätte das mit einem Anruf überprüfen können, aber die nette Dame von der Erziehungsberatung hatte ihr empfohlen, loszulassen.
»Ihre Tochter will ihre eigenen Wege gehen«, hatte sie gesagt. »Das ist auch völlig normal bei einer Fünfzehnjährigen!«
Nora beruhigte sich damit, dass Emma nichts passiert sein konnte, denn schließlich war sie auf einer Klassenfahrt in Brandenburg und nicht in Somalia. Im Falle eines Unfalls hätte irgendjemand angerufen; die Lehrerin oder jemand von den Eltern, die als Begleitpersonal mitgefahren waren. Ihre Sorgen waren also völlig unbegründet. Sie waren Ausdruck einer klammernden Mutter und einfach lächerlich.
Sie streifte ihre Sportklamotten ab, ging ins Bad und stellte sich vor den Spiegel, der über dem Waschbecken hing.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen!«, sagte sie zu sich selbst. »Lerne loszulassen! Irgendjemand hätte dich angerufen, wenn etwas passiert wäre. Emma geht es ausgezeichnet.«
Sie fühlte sich augenblicklich besser, stieg unter die Dusche und stellte das warme Wasser an. Es kribbelte am ganzen Körper. Wie gut, dass sie gelaufen war. So hatte sich die Anspannung des Wochenendes gelöst.
Nachdem sie sich angezogen und das Gemüse für das Abendessen geschnippelt hatte, stieg sie in ihren weißen Renault Twingo. Im Rückspiegel sah sie Max, der auf dem Polster saß und vor Aufregung hechelte. Er würde im Auto bleiben müssen, denn er war ein Golden Retriever und zu groß für Emma. Wenn er an ihr hochsprang, schaffte sie es kaum, das Gleichgewicht zu halten.
Bevor sie den Motor startete, schaute sie noch einmal auf ihr Handy, aber es war noch immer keine Nachricht gekommen.
Sie überlegte einen Moment, dann entschied sie sich, anzurufen. Mit Klammern hatte das nichts zu tun. Sie wollte Emma nur mitteilen, dass sie in wenigen Minuten am Bus sein würde. Nachdem sie ihre Nummer gewählt hatte, schaltete sich sofort die Mailbox an.
»Hey! Kann grad nicht ans Telefon gehen. Einfach losquatschen. Ich ruf zurück.«
Vermutlich war der Akku tatsächlich leer. Sie musste lachen. War es möglich zu pubertieren, ohne dass das Handy herunterfiel oder der Akku erschöpft war? Sie legte auf. Nein, das war es nicht. Aber es hatte gutgetan, Emmas Stimme zu hören.
Die Werner-von-Siemens-Schule in Gransee war ein moderner Flachbau mit einer großzügigen Fensterfront. Es hatte sich eine Schar wartender Eltern vor dem Gebäude versammelt. Einige hatten sich in Grüppchen zusammengefunden und unterhielten sich angeregt. Andere standen vereinzelt herum und sahen gespannt in Richtung Straße, wo der Bus jeden Moment ankommen musste.
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