Der Kommissar stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Sie merken, dass ich ein Mann der klaren Worte bin. Aber ansonsten beiße ich nicht. Ich heiße Uli!«
Julia erhob sich ebenfalls und erwiderte die Geste. Ihre Hände waren feucht.
Das vermisste Mädchen bewohnte gemeinsam mit seiner Mutter ein Landhäuschen in der Dorfstraße von Schönermark bei Gransee, gleich gegenüber der Kirche. Die Herbstsonne schien warm, als Julia und Rösler aus dem Auto stiegen und klingelten.
Die Frau, die ihnen öffnete, war sportlich und hatte ein hübsches Gesicht, aber sie sah blass und mitgenommen aus. Unter ihren Augen hatten sich Schatten gebildet. Julia dachte, dass sie selbst auch nicht gesünder aussähe, wenn ihr Kind vermisst würde.
»Sind Sie Nora Bentheim?«, fragte Rösler mit hochgehaltener Dienstmarke, woraufhin die Mutter nickte und die Haustür weit aufmachte. »Wir sind vom Vermisstendezernat.«
Julia und Rösler folgten ihr in ein Wohnzimmer, das von Möbeln aus naturbelassenem Holz dominiert wurde; vor den Fenstern hingen lindgrüne Vorhänge. An einem Schreibtisch lehnte ein etwa vierzigjähriger Mann. Er hatte eine großporige, rote Gesichtshaut mit tiefen Furchen an Stirn und Nase, und Julia mutmaßte, dass Alkohol eine Rolle in seinem Leben spielte.
»Das ist Manfred Hasse, der Vater meiner Tochter«, sagte Nora Bentheim tonlos und mit einer beiläufigen Handbewegung.
Julia und Rösler nahmen auf einem weißen Stoffsofa Platz. In einer Zimmerecke lag ein Golden Retriever. Er beobachtete das Geschehen mit wachem Blick.
»Bitte erzählen Sie uns noch einmal ganz genau, was geschehen ist«, sagte Rösler.
»Ich werde noch wahnsinnig!«, sagte Nora Bentheim, während sie durchs Zimmer tigerte und sich die Haare raufte. »Meine Tochter ist verschwunden, und alle stellen dumme Fragen!«
»Wann gedenken Sie endlich was zu unternehmen?«, mischte sich der Vater des Mädchens ein. »Frau Bentheim hat der Polizei doch schon alles gesagt! Sehen Sie nicht, in welchem Zustand sie ist?«
Nora Bentheim warf dem Mann einen giftigen Blick zu. »Halt dich gefälligst da raus, Manfred! Emma und ich waren dir jahrelang scheißegal. Also spiel dich hier nicht wie unser Retter auf!«
»In Ordnung, ich kann auch gehen, wenn –«
Uli Rösler nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Bitte … Ich kann verstehen, dass Ihre Nerven blank liegen, aber ein Streit hilft uns jetzt nicht weiter. Erzählen Sie uns ganz genau, was geschehen ist. Von Anfang an. Mittwochmorgen hat Ihre Tochter das Haus verlassen. Angeblich wollte sie zur Schule, um eine Klassenfahrt anzutreten, richtig?«
»Um kurz vor acht ist sie zur Tür raus«, sagte die Mutter.
»Wie ist sie gefahren? Mit dem Bus?«
»Mit ihrem Rad. Sie hat ihr Rad benutzt. Aber als ich sie am Sonntag von der Schule abholen wollte, stand es nicht da.«
»Was für ein Rad? Welche Marke, welche Farbe?«
Die Mutter sah sich suchend im Zimmer um. »Mein Gott, woher soll ich das wissen! Es ist rosa. Das Modell heißt ›Miss Grace‹, glaube ich, aber die Marke … Ich muss noch irgendwo eine Rechnung haben.«
»Das finden wir heraus«, sagte Rösler. »Sind Sie sicher, dass sie Richtung Schule gefahren ist?«
»Wo hätte sie sonst hinfahren sollen? Ich bin ihr nicht hinterhergelaufen, wenn Sie das meinen!«
Rösler nickte. »Weiter. Was ist dann geschehen?«
»Das ist unklar. Die Lehrerin sagte, gegen halb neun habe jemand unter meinem Namen im Sekretariat angerufen und meine Tochter krankgemeldet. Ich vermute, dass sie das selbst war. Von ihrem Handy aus.«
»Das können wir rasch über einen Verbindungsnachweis herausfinden«, sagte Rösler.
Die Mutter reichte ihm ein Schreiben. »Das hat die Schule am nächsten Tag per Post bekommen. Sehen Sie selbst.«
Rösler setzte seine Brille ab, um besser lesen zu können, und Julia spähte ihm über die Schulter.
»›Sehr geehrte Frau Kessler‹ –«
»Das ist die Klassenlehrerin«, unterbrach die Mutter.
»›… leider kann meine Tochter Emma wegen eines schweren grippalen Effekts nicht an der Klassenfahrt teilnehmen. Ich bitte um Entschuldigung. Mit freundlichen Grüßen Nora Bentheim‹.«
Eine Unterschrift, die vermutlich von der Mutter sein sollte, verlief unter dem Text.
Rösler setzte die Brille wieder auf und legte den Brief vor sich auf den Tisch. »Es müsste Infekt heißen, nicht Effekt. Das hat Ihre Tochter geschrieben.«
Nora Bentheim lächelte schwach, während sie ihre Hände aneinanderpresste. »Meine Tochter hat sich krankgemeldet und meine Unterschrift gefälscht. Seitdem ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Bitte helfen Sie mir, dass ich nicht ausflippe!«
Sie griff nach einem Handy, das auf einem gläsernen Couchtisch lag, und hielt es Rösler hin. »Das sind ihre letzten beiden Nachrichten an mich.«
»Lesen Sie vor«, sagte Rösler, der vermutlich nicht schon wieder seine Brille absetzen wollte.
»Die erste ist von Mittwochabend. ›Hi, Mom, sind gut angekommen.‹« Der Mutter versagte die Stimme. »›Hab dich lieb, Emma‹.«
»Und die zweite?«
»Donnerstagnachmittag. ›Hi, Mama, mein Akku ist gleich alle, und ich hab mein Ladekabel vergessen. Nur damit du weißt, warum ich dir nicht schreibe. Mir geht’s supergut hier. Hab dich lieb. Bis Sonntag‹.«
»Und danach haben Sie nichts mehr von ihr gehört?«, fragte Rösler.
»Nein«, sagte Nora Bentheim und kämpfte mit den Tränen.
»Versucht anzurufen haben Sie nicht?«
»Am Sonntag, dem Tag der Rückkehr, ein Mal. Aber da war gleich die Mailbox dran.«
»Sie haben nur dieses eine Mal versucht, Ihre Tochter anzurufen?«, fragte Rösler, und Julia dachte, dass sie ihren Sohn jeden Tag kontaktiert hätte. Allerdings war er auch ein wenig jünger.
»Herrje, nun machen Sie mir auch noch Vorwürfe! Ich wollte ihr nicht dauernd hinterhertelefonieren. Meine Tochter und ich haben ein sehr enges Verhältnis, und ich muss lernen, mehr loszulassen. Eine Erziehungsberaterin unterstützt mich dabei. Außerdem war ich bei einem Seminar in Hamburg und glaubte Emma bei der Klassenfahrt, also in sicherer Umgebung.«
»Verstehe«, sagte Rösler. »Was für ein Seminar war das?«
»Wirtschaftspsychologie, Fernstudium. Ich muss ein paarmal im Jahr nach Hamburg deswegen.«
»Sind Sie sicher, dass die Nachricht von Ihrer Tochter ist?«, fragte Julia mit Seitenblick zu Rösler, um sich zu vergewissern, dass ihre Einmischung in Ordnung war. Rösler gab ihr mit einem freundlichen Blick zu verstehen, dass er ihre Frage wichtig fand.
»Es ist interessant, dass Sie das sagen. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht so ganz sicher. ›Mom‹ ist kein gebräuchliches Wort von ihr. Sie nennt mich zwar manchmal so, aber sie hat es noch nie in einer Nachricht verwendet. Außerdem ist der Text für Emmas Verhältnisse ungewöhnlich lang.«
»Hat sie denn tatsächlich ihr Ladekabel vergessen?«, fragte Rösler.
»Ich hab das ganze Haus durchsucht. Es ist nirgends! Also muss sie es mitgenommen haben. Das könnte bedeuten, dass das, was in der Nachricht steht, gelogen ist. Ich dreh noch durch!«
»Frau Bentheim«, sagte Rösler sanft. »Kann es nicht vielmehr sein, dass Ihre Tochter ausgebüxt ist? Die gefälschte Entschuldigung spricht doch dafür.«
»Das sage ich ja die ganze Zeit«, warf Manfred Hasse ein. »Aber die Frau Bentheim hört nicht auf mich.«
Die Mutter schüttelte heftig den Kopf. »Das passt nicht zu meiner Tochter. Sie würde nicht so einfach abhauen. Niemals!«
Julia erspähte im Regal ein Foto in einem Holzrahmen. Es zeigte eine Jugendliche, die auf einer Wiese stand und in die Kamera lachte. Mutter und Tochter ähnelten sich stark. Beide hatten dunkle Haare und eine zarte, blasse Haut.
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