Spätestens nach Passieren der »Wecken-und-Würstle-Haltestelle« stellte sich bei Querlinger Kapitulationsbereitschaft ein. Was sich als etwas mühselig erwies, war allerdings die Konversation mit der alten Gräfin. Ungarischer Hochadel. In den fünfziger Jahren emigriert nach Österreich, dann nach Deutschland. Ein Gestüt in Niederösterreich, eine Villa in Grünwald, ein Schloss bei Mochental, nahe Ulm. Und eine Penthousewohnung in der Ulmer City.
»Abär die gähört meinär Enkälin, Ilona von Békesi-Alaghy. Sie studiert Kunst und ist Moodel bei Karl Lagerwald, dem bärühmten Stardesignär.«
»Oh, bei Lagerwald. Interessant! Hat sie Erfolg?«
»Ärfolg? Abär natürlich, mein bästäs Kommissarchen. Sie schon auf den bärühmtästän Titelseiten zu sähän gäwäsen ist. In Dessus – Sie värstähän?«
Natürlich verstand Querlinger. Was er nicht verstand: Wie kam die Gräfin nur dazu, ihn »Kommissarchen« zu nennen und den Satz mit den Dessous leise schnurrend wie eine Katze von sich zu geben?
Etwa weil sie auf der Suche nach einem Kater war?
Gräfin Békesi-Alaghy klimperte mit den künstlichen Wimpern und rückte näher an ihn heran. Querlinger versuchte, etwas von ihr abzurücken, aber die Sitze im Bierbähnle waren ziemlich schmal.
»Und wie … ähm … kam Ihre Enkelin zu Lagerwald? Beziehungen, nehme ich an?«
Wimpernklimpern. »Abär Kommissarchen, was heißt Bäziehungen. Talänt! Großes Talänt! Ich känne Lagerwald zwar sähr gut, von frühär, abär wie gesagt: großes Talänt, meine Enkälin.«
»Sie kennen ihn von früher?«
»Ja, wir gäwäsän sind ein … nun ja.«
Das »nun ja« sprach Bände. Querlinger grinste. Die Gräfin zog ihr Smartphone hervor, drückte ein paar Tasten und hielt Querlinger das Display vor die Nase. Ein schlossähnliches Anwesen aus der Vogelperspektive.
»Ich wärde bald einä große Party gebän. Auf meine Schloss bei Mochental. Sie sind härzlich willkommen. Meine Enkälin kommt auch.«
Wimpernklimpern. Schmachtender Blick aus graublauen Augen.
»Oh, vielen Dank für die Einladung. Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Die Gräfin zeigte ihm weitere Bilder. Fotos von einem Park mit Bäumen und steinernen Skulpturen. Alter Baumbestand. In Form geschnittene Buchsbäume.
Querlinger gab sich beeindruckt: »Sehr schön, wirklich sehr schönes Anwesen!«
»Anwäsen? Gutäs Kommissarchen, das ist Schloss, nicht Anwäsän!«
»Ja, ja, natürlich. Ich wollte Schloss sagen.«
»Ich schicke Ihnen auf Händy Adrässe und Bilder. Gebän Sie mir Nummer?«
Etwas widerstrebend zog Querlinger eine private Visitenkarte aus der Hosentasche, die er ihr überreichte.
»Wunderbar. Sie Einladung von mir ärhaltän. Schriftlich.«
Das Bierbähnle war inzwischen an der »Shrimps-und-Fisch-Haltestelle«, sprich: beim Hauptbahnhof, angekommen. Jetzt erst fiel Arnulf Weißenegger das Fehlen des Reporters auf.
»Nanu, wo ist denn der Herr von der Presse, den ich engagiert habe?«
»Sie haben ihn engagiert? Er war also kein Bekannter oder Freund?«, fragte Querlinger.
»Ich habe ihn gebeten, Fotos zu machen. Es ist schließlich ein Event, das man nicht alle Tage erlebt. Es wird einen Artikel im Regionalen des Südwestboten darüber geben. Herr Oxheimer sollte die Bilder dazu liefern.«
»Ein Artikel im Südwestboten? Die drucken so was?«
»Ich habe eine große Anzeige über mein neu eröffnetes Therapiezentrum in Auftrag gegeben. Im Gegenzug sollte ich einen redaktionellen Beitrag erhalten. Wo er bloß hin ist?«
»Er ist an der letzten Haltestelle ausgestiegen. Ihm war nicht gut. Was man ihm ansah.«
»Tatsächlich? Hab ich gar nicht bemerkt.«
Querlinger heuchelte Bedauern und bedeutete Weißenegger, sich zu ihm hinunterzubeugen.
»Entweder er leidet an Inkontinenz, oder er hat sich die Blase erkältet«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Er hatte jedenfalls auf einmal eine total verpinkelte Hose.«
»Um Himmels willen, aber dann kann er doch nicht arbeiten. Er versaut mir meinen öffentlichen Auftritt. Wer schießt jetzt die Fotos?«
»Na ja, ein paar Bilder hat er schon gemacht, vielleicht reichen die ja.« Im Stillen hoffte Querlinger, dass sämtliche Aufnahmen misslungen wären. Seine Gegenwart bei dieser verrückten Party öffentlich zu dokumentieren und sich mit Bild in einem Artikel neben einem stadtbekannten Spinner wie Weißenegger verewigt zu sehen – da konnte er sich weit Angenehmeres vorstellen.
Der letzte Halt der Hinfahrt war erreicht: die Friedrichsau, das beliebte Ulmer Naherholungsgebiet. Von Weißenegger zur »Kaffee-Dessert-Kuchen-und-Schnäpsle-Haltestelle« umfunktioniert.
»Alles aussteigen«, röhrte Amor, der Ulmer Liebesgott. »Hier werden wir die nächsten zwei Stunden verbringen. Bitte, mir zu folgen.«
Zwei Stunden! Nahm das Grauen überhaupt kein Ende?
Während das Bierbähnle leer weiterfuhr – in zwei Stunden würde es die Festgesellschaft wieder abholen –, steuerten Weißenegger und seine Gattin, gefolgt von den Gästen, auf eine mit Büschen umrandete, kurz geschorene Wiese zu.
»Aufgepasst!«, rief er und hob die Hände wie ein Dirigent. Querlinger ahnte Fürchterliches. Wie auf Kommando brachen die Mitglieder der Swabian Brass Band mit ihren Musikinstrumenten bewaffnet hinter den Büschen hervor, stellten sich in Positur und begannen »An der schönen blauen Donau« zu intonieren.
»Alles Walzer!«, brüllte Weißenegger. Und noch ehe Luise sich’s versah, hielt der Plastikamor sie in seinen Armen und begann, sich mit ihr auf der Wiese zu drehen. Gleich darauf schwang auch der Rest der Bierbähnle-Besatzung das Tanzbein. Außer Querlinger.
Dann stand das Schicksal vor ihm. In Gestalt Patricia Weißeneggers.
»Damenwahl, Herr Kriminalhauptkommissar!«
Querlinger stöhnte, doch das Schicksal scherte sich einen Dreck darum. Als er sich mit Psyche auf dem Rasen drehte, schlug es ein zweites Mal zu. Vielleicht war das, was geschah, dem erhöhten Bierkonsum des Kommissars geschuldet, vielleicht auch einer tückischen Unebenheit im Rasen – jedenfalls stolperte Querlinger so unglücklich, dass er mitsamt seiner Partnerin zu Boden stürzte und flach auf sie zu liegen kam.
Gelächter. Verstörung bei Querlinger. Doch anstatt dass Pati ebenso erschrocken reagiert hätte wie er, trat ein verklärter Glanz in ihre Augen. »Oh, Herr Kommissar, Sie sind ja ein ganz Schlimmer!«, flüsterte sie.
Traumatisiert stand Querlinger später abseits der Tanzveranstaltung am Rand der Wiese und sehnte sich einmal mehr nach einem Anruf, der ihn zu einem Tatort beordern würde. Hätte er gewusst, dass sich Oxheimer, nachdem er ausgestiegen war, ein Taxi zur Friedrichsau genommen hatte – er wäre vermutlich noch traumatisierter gewesen.
»Hallo, Herr Kommissar, genug von der Party?«, fragte eine Stimme in seinem Rücken.
Querlinger drehte sich um und musterte den Mann. Es war der, der ursprünglich neben der Gräfin gesessen hatte. Der, den er aus der Zeitung kannte. Ein Mann Mitte siebzig, aber noch außerordentlich agil wirkend und gut aussehend. Plötzlich fiel ihm auch der Name wieder ein: Adam Zoller. Zoller war vor Jahren Vorstandsvorsitzender einer international tätigen Maschinenbau AG gewesen. In den Medien dafür bekannt, während seiner aktiven Zeit Kompromisse stets zulasten der Belegschaft geschlossen zu haben. Anstatt sich auch mal für die Belange der nach Tausenden zählenden Arbeiter und Angestellten einzusetzen, hatte er gegenüber den Aktionären und anderen VIPs aus Politik und Gesellschaft stets den Schwanz eingezogen, keinen Hintern in der Hose gehabt. Den Mann ohne Arsch hatte man ihn deshalb genannt.
»Ein bissle ausruhen halt«, antwortete Querlinger. »War heute ein harter Tag im Büro. Hab vorhin ’nen Schwindelanfall gehabt, wie Sie ja bestimmt mitbekommen haben. Muss den Kopf frei bekommen. Und die Luft hier in der Friedrichsau tut gut.«
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