»Dann sehn wir uns den Herrn mal an«, meinte er zu Eulenburg. »Ziemlich feucht und schmierig hier, passen Sie auf, dass Sie nicht ausrutschen und im Fluss landen«, mahnte er besorgt, nachdem er mit ihr das Treppchen zur Blau hinuntergestiegen war und sie über den unebenen Betonstreifen balancierten, der unter die Brücke führte.
Vor einem Bretterverschlag, der schief an der Betonwand lehnte, standen zwei starke, von einer Batterie gespeiste Tatortleuchten. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung und zwei Beamte der Schutzpolizei standen herum.
»Da drin im Verschlag liegt er, Herr Hauptkommissar. Der Kollege Hofzitzel und die Kollegin Tausendschön sind drin. Und der Dr. Brenner«, sagte der Schutzpolizist.
Die Geißel Gottes. Querlinger seufzte. Zusammen mit Eulenburg trat er näher und blickte in den Verschlag. Der Gerichtsmediziner kniete auf einer Plane neben dem Toten. Nepo machte gerade ein paar Fotos vom Inventar der Behausung: ein ausgebauter Autositz, eine umgedrehte Holzkiste, darauf eine batteriegespeiste Werkstattlampe, die natürlich aus war. Am Boden, an der Wand entlang sauber nebeneinander gereiht: ein Teller, ein zerbeulter Kochtopf, ein Esbit-Kocher, Besteck und, akribisch zusammengefaltet, eine Ausgabe des Südwestboten. Neben der Matratze, auf der der Tote lag: ein Rucksack. An die Betonwand gelehnt: ein altes Fahrrad.
»Tag zusammen«, grüßte Querlinger die Kollegen, die mit einem »Hallo« zurückgrüßten. Dr. Elias Brenner sah nur kurz auf.
Querlinger machte einen Schritt in den Verschlag und bückte sich zu dem Toten hinunter, der mit einem langen Schnitt um den Hals in einer riesigen Blutlache lag. Eigenartig: das selige Lächeln im Gesicht. Markant: der große Leberfleck auf der rechten Wange. Der Geruch ließ ihn kurz zurückzucken. Aber zumindest hatte die Anwesenheit der versammelten Truppe die Schmeißfliegen verscheucht.
»Todeszeitpunkt?«, fragte er Brenner.
»Bin ich Gott?«, eröffnete dieser den zu erwartenden Schlagabtausch.
»Zum Glück nicht, sonst müsste ich Atheist werden«, knurrte Querlinger. Er hatte die Frage falsch gestellt. Den genauen Todeszeitpunkt würde der Mediziner erst nach einer Untersuchung im Labor sagen können.
»Ungefährer Todeszeitpunkt?«
»Sie sind tatsächlich noch lernfähig. Freut mich, Querlinger«, lästerte der Gerichtsmediziner. »Dürfte grob geschätzt mehr als achtundvierzig Stunden zurückliegen.«
Querlinger beugte sich weiter herunter. Jetzt erst sah er, dass das Kinn blau angelaufen war.
»Das ist doch kein Totenfleck, oder? So wie der Tote liegt, dürften die eher am Rücken zu finden sein.«
»Ist auch keiner«, knurrte Brenner, dem es sichtlich schwerfiel, den Kommissar recht geben zu müssen. »Außerdem dürften diese Livores nicht sehr ausgeprägt sein, bei dem Blutverlust, den der Mann erlitten hat.«
»Das heißt, wir haben es mit Gewalteinwirkung zu tun. Er hat einen Schlag gegen das Kinn abbekommen«, bemerkte der Kommissar mehr zu sich selbst.
»Nein, er wurde gestreichelt!«
Hornochs, bleeder, schoss es Querlinger durch den Kopf, aber er beherrschte sich.
Eulenburg schaltete sich ein. »Entweder ein Streit oder ein Unfall also. Der Mann hatte sich vorher mit seinem Mörder gestritten, der hat ihm einen Haken verpasst, oder er ist gestürzt und mit dem Kinn aufgeschlagen.«
»So ungefähr«, sagte Brenner. »Ach ja, noch etwas.« Er zog das Hemd des Toten über dem Steißbein ein Stück weit hoch und zeigte auf die entblößte Haut. »Der Mann hat sich ein Tattoo über dem Allerwertesten stechen lassen. Ein fünfblättriges Kleeblatt. So, und nun muss ich weiter. Ich hab meine Zeit nicht gestohlen.« Sprach’s, klappte seinen Koffer zu und machte sich fluchtartig davon.
»Ein fünfblättriges Kleeblatt? Seltsam! Gibt es fünfblättrige Kleeblätter überhaupt? Also, ich meine in Gottes freier Natur«, wandte sich Querlinger an Eulenburg.
Die war bereits am Googeln.
»Es gibt tatsächlich Kleeblätter mit mehr als vier Blättern, wenn auch selten. Vielfiedrig … Sammelobjekte … den Rekord hält ein Japaner, der ein achtzehnblättriges Kleeblatt gefunden hat.«
»Wahnsinn! Vielleicht sollte er das bei Sotheby’s versteigern. – Wie schaut’s bei euch aus? Lässt sich schon was sagen?«, wandte sich Querlinger an Nepomuk Hofzitzel.
»Wir haben Faserspuren und Fingerabdrücke sichergestellt. Und einen Abfallbeutel mit Resten einer Mahlzeit: eine leere Ölsardinenbüchse, ein Kanten Brot, ein paar Krümel, ein halber Schokoriegel und eine fast leere Rotweinflasche. Den Inhalt des Rucksacks nehmen wir uns im Labor vor. Das Fahrrad kommt in die Asservatenkammer, zusammen mit den anderen Utensilien, die hier rumliegen. Wird aber dauern, bis alle Ergebnisse vorliegen. – Ach ja, hätte ich beinahe vergessen. Wir haben auch ein Durcheinander von Sohlenabdrücken von drei Paar Schuhen auf dem glitschigen Boden sicherstellen können.«
»Auf den ersten Blick also nichts Außergewöhnliches.«
Hofzitzel schüttelte den Kopf. »Es sei denn, die Kappe, die der Mann trägt, sieht man als was Besonderes an.«
»Sieht irgendwie orientalisch aus«, knurrte Querlinger.
»Und ziemlich teuer. Goldborte, komplexe Stickereien, richtig wertvoll, vermute ich mal«, ergänzte Hofzitzel.
»Das ist ein Araberkäppi. Nennt man ›Taqiyah‹«, belehrte Eulenburg ihre Kollegen. »Wird gelegentlich auch von Europäern getragen. – Moment, hier ist noch was.« Sie bückte sich und drehte gleich darauf einen Bleistift in der behandschuhten Rechten. Er trug eine Aufschrift: »Tabak und Zeitschriften B. Vogtländer«.
»Woher haben Sie den?«, fragte Nepo.
»Lag da unten neben der Matratze in einer Betonritze.«
»›Tabak und Zeitschriften B. Vogtländer‹. – Das ist doch der Kiosk beim Busbahnhof«, meinte Querlinger.
»Richtig. Nicht weit von hier. Vielleicht kannte er den Kioskbesitzer.«
»Vielleicht. Sicher hatte er noch andere soziale Kontakte. Wir werden uns im Milieu umschauen müssen. – Wir packen’s dann, Nepo. Wann, schätzt du, hören wir von dir?«
»Morgen Vormittag.«
Querlinger wandte sich zum Gehen, Eulenburg folgte ihm. Noch hatten sie den tunnelartigen Bereich unter der Brücke nicht verlassen, als der Schatten eines Mannes den Ausgang verdunkelte. Gleich darauf tauchte der Schattenwerfer höchstpersönlich auf.
»Der Depp hat mir gerade noch gefehlt. Wie konnten die den überhaupt durchlassen? Der Zugang ist doch abgesperrt«, schimpfte Querlinger nicht gerade leise.
Dieter Oxheimer grinste höhnisch.
»Tja, da hab ich als investigativer Journalist so meine Tricks, Querlinger. Solltest du doch allmählich wissen. Im Interesse der Aufklärung der Bürger ist Kreativität gefordert.«
»Du bist ein kreativer Lügner und Desinformierer, Oxheimer. Der mündige Ulmer Bürger weiß, was er von deinen Schauermärchen halten muss. Und jetzt sieh zu, dass du Leine ziehst, hier unten ist ein Tatort, an dem gerade ermittelt wird.«
»Weiß ich, Querlinger, weiß ich, deswegen bin ich ja da. Du hast die dritte Leiche an der Angel. Drei unaufgeklärte Morde – dass dir da als leitendem Ermittler der Arsch auf Grundeis geht, kann ich gut verstehen.«
Querlinger wollte ohne Kommentar einfach weitergehen, doch Oxheimer wich nicht von der Stelle, an der es räumlich ziemlich eng herging. Und glitschig …
»Komm schon, Querlinger. Gib mir wenigstens ein paar Infos, dann kann ich dein Image in der Öffentlichkeit etwas aufpolieren.«
»Noch ein Wort, und ich polier dir gleich was auf, Oxheimer. Ich warne dich. Lass uns vorbei.«
»Mensch, Querlinger, sei halt nicht so …«
In diesem Moment geriet der Kommissar unverständlicherweise ins Rutschen, allerdings nur leicht. Dabei stieß er dem vor ihm stehenden Reporter aus Versehen – wie er später sagen sollte – den Ellenbogen in die Rippen. Oxheimer, so aus dem Gleichgewicht gebracht, wäre fast auf den glitschigen Beton geknallt, hätte Querlinger ihn nicht am Kragen gepackt und festgehalten. Sanft ließ er ihn auf den schmierigen, mit Schlamm und Algen kontaminierten Betonuntergrund hinuntergleiten.
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