Shinné lächelte, doch die sanfte Stimme vertrieb auch den Schleier vor seinen Augen. Sein Lächeln gefror auf dem Gesicht.
Vor ihm stand Wyn, in jeder Hand ein Schwert, und lächelte ihn herausfordernd an. Hinter seinem Rücken hatte Ranva den Kampf mit den Dämonen aufgenommen. Enttäuschung machte sich in Shinné breit; die wunderschöne Stimme gehörte also einem Feind.
»Was ist los?«, wollte Wyn wissen. »Willst du kämpfen oder willst du mich nur anstarren?«
»Ich will nicht nur kämpfen«, knurrte Shinné, »ich will dich vernichten!«
Er stürzte sich auf Wyn, der durch die Wucht des Aufpralls kurz taumelte.
»Habe ich dich etwa verärgert?«, lachte dieser nur.
»Ich bringe dich für immer zum Schweigen«, zischte Shinné dem schwarzen Engel zu.
Noch während er das sagte, wurde ihm bewusst, dass das eigentlich das Letzte war, was er wollte. Er wollte Wyns Stimme jeden Tag hören, in ihr versinken und nie wiederauftauchen. Irritiert stellte Shinné fest, dass er etwas für Wyn empfand, nur, was genau, konnte er nicht ganz einordnen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, machte Shinné einen Schritt zurück und unterbrach so den Kampf.
»Wirst du müde?«, fragte Wyn schelmisch und begann zu lachen.
Shinné machte einen unschlüssigen Schritt auf ihn zu, woraufhin sich ihre Blicke trafen.
Wyns Gelächter erstarb. Er legte den Kopf leicht schief und sah Shinné neugierig an.
Shinné versank in den tiefschwarzen Augen seines Gegenübers.
Wyns Augen waren ebenso sanft wie seine Stimme, ein Strudel, der Shinné magisch anzog. Dann spürte er plötzlich, wie sich etwas in seinem Brustkorb regte. Zuerst wusste er nicht genau, was es war, das sich so warm in seinem ganzen Körper ausbreitete. Nach wenigen Augenblicken erkannte er die Zärtlichkeit, seine ganz eigene Gabe, die ihn diesmal nicht verbrannte und ihm wehtat. Seltsamerweise ging diese Zärtlichkeit von Wyn aus und galt Shinné allein.
»Das werdet ihr büßen!«, kreischte da Silva.
Shinné blinzelte verwirrt und durchbrach so die Verbindung, die er gerade noch mit Wyn gehabt hatte. Die Dämonen lagen besiegt auf dem Boden, und die schwarzen Engel hatten einen Kreis um ihn, Silva und Wyn gebildet.
Auch Wyn blinzelte ein paar Mal benommen, bevor er sich umsah und sich dann in den Kreis seiner Gefährten einreihte.
»Das werden wir noch sehen«, erwiderte Ranva nur trocken auf Silvas Drohung.
Silva warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Sie ließ ihre Flügel erscheinen und stieß sich kraftvoll vom Boden ab.
Widerwillig ließ Shinné seine Flügel ebenfalls erscheinen. Er warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf Wyn, bevor er sich ebenfalls vom Boden abstieß und im nächtlichen Himmel verschwand. Obwohl er nichts lieber getan hätte, als zu bleiben, um noch länger in Wyns Augen zu sehen.
Wyn sah in den Sternenhimmel hinauf, obwohl Shinné schon längst nicht mehr zu sehen war. Am liebsten hätte er ebenfalls seine Flügel ausgebreitet und wäre ihm gefolgt; ein Wunsch, der ihm schon fast Angst machte. Wyn wusste selbst nicht, was im Kampf plötzlich über ihn gekommen war, doch als sich ihre Augen getroffen hatten, war die Zeit stehen geblieben.
Er schloss die Augen und rief sich Shinnés Bild noch einmal in Erinnerung: weißblonde Haare, die vom Kampf ganz zerzaust waren, die blutroten Augen und seine sanft geschwungenen Lippen, sinnlich wie ein Versprechen.
Liebevoll lächelte Wyn, bis er an Shinnés Gesichtsausdruck während des Kampfes dachte. Zuerst hatte er benommen gewirkt, als wäre er nicht ganz Herr seiner Sinne, bis sich schließlich ein vorsichtiges Lächeln über seine Züge gestohlen hatte. Dieses Lächeln war Sekunden danach einer Fratze des Schmerzes gewichen.
Wyn schauderte, als er an die Verzweiflung und Wut in Shinnés Blick dachte. Er hätte den gefallenen Engel so gerne in den Armen gehalten und vor dem beschützt, was diese Verzweiflung verursachte. Dieses Verlangen, Shinné nah zu sein, war einfach über ihn gekommen, und nun verschwand es nicht mehr.
Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte Wyn zusammen, doch es war nur Raphael, der ihn besorgt musterte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
Wyn nickte. »Ja, mir fehlt nichts.«
Raphael wirkte nicht ganz überzeugt, wandte sich dann aber an die anderen: »Was ist mit euch?«
»Alles gut«, antwortete Ranva, »aber diese Bruchlandung zahle ich Shinné noch heim, das schwöre ich!«
»Wer genau ist dieser Shinné eigentlich?«, fragte Farah. »Ich kannte weder ihn noch den anderen gefallenen Engel.«
»Silva und Shinné sind Geschwister, Zwillinge, um genau zu sein«, erklärte Leander.
»Und woher kennst du sie?«, wollte Wyn wissen, immer noch Shinnés Gesicht vor Augen.
»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte Leander.
»Je eher wir sie erfahren, desto besser«, meinte Ranva.
»Ich stimme dir da ganz zu«, unterbrach Raphael sie, »aber können wir das vielleicht bei Daniel klären? Ich mache mir etwas Sorgen, um ihn und Gabriel.«
Leanders Miene verdunkelte sich. »Glaubst du, ihnen ist etwas zugestoßen?«
Raphael zuckte mit den Schultern. »Mir wäre einfach wohler, sie vor mir zu haben.«
»Dann nichts wie los«, sagte Farah.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin ließen sie alle ihre Flügel erscheinen. Raphael nahm Ranvas Hand und drückte sie sanft. Sie warf ihm ein liebevolles Lächeln zu, bevor sie sich alle vom Boden abstießen und im Himmel verschwanden.
»Du hast ein Zimmer im Erdgeschoss?«, fragte Gabriel wenig begeistert, als Daniel ihn in sein Zimmer führte.
»Ist das ein Problem?«, fragte Daniel etwas besorgt.
»Vielleicht«, erwiderte Gabriel. Er ging zu dem einzigen Fenster und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen nach draußen. »Mach das Licht aus und halte dich an der Tür!«, befahl er Daniel dann.
»Was ist los?«, wollte dieser wissen. Er hatte instinktiv angefangen zu flüstern, während er so lange zurückwich, bis er mit dem Rücken gegen sein Bücherregal stieß.
Gabriel zog seine Jacke aus. Mit zwei Lederriemen war ein Dolch an seinem rechten Oberarm befestigt. Er öffnete das Fenster und zog sich daran hoch.
»Ich bin bald wieder zurück«, sagte er dann, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Daniel blieb mit rasendem Herzen neben der Zimmertür stehen. Gabriels Verhalten machte ihm Angst. Was, wenn der schwarze Engel nicht zurückkam? Wenn dort draußen irgendetwas bereits auf ihn lauerte?
Daniel versuchte, sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen, doch die Angst zu sterben wurde übermächtig. Endlich tauchte Gabriel wieder vor dem Fenster auf und kletterte zurück ins Zimmer.
»Du kannst das Licht jetzt ruhig wieder anmachen«, sagte er, während er das Fenster wieder schloss.
Daniel tat, wie ihm geheißen, und das Zimmer wurde augenblicklich in warmes Licht getaucht.
»Was ist passiert?«, fragte Daniel.
Gabriel ließ sich auf Daniels Bett nieder.
»Ich habe bei unserer Ankunft einen Dämon auf dem Nachbargrundstück gesehen, aber er ist verschwunden. Seine Spur führt die Straße hinunter«, antwortete er.
»Willst du ihn nicht verfolgen?«
»Und dich allein zurücklassen?«, erwiderte Gabriel, als er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. »Lieber nicht.«
Daniel blieb unschlüssig neben seinem Bücherregal stehen. Gabriel dagegen saß ganz entspannt auf seinem Bett; die Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln.
»Du kannst dich ruhig neben mich setzen«, sagte Gabriel schließlich augenzwinkernd. »Ich beiße schon nicht.«
Widerwillig musste Daniel grinsen und ließ sich auch auf das Bett sinken.
Eine Weile saßen sie nur schweigend nebeneinander. Dann sagte Gabriel: »Das heute war bestimmt sehr viel für dich.«
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