Die Fensterreihe im Rücken des Ledersofas wurde durch luftige, hellgraue Vorhänge verdeckt, und vor jedem der drei Fenster war ein kleiner Wasserspeier angebracht. Auf dem kleinen Kaffeetisch vor dem Sofa stapelten sich Bücher über Traumdeutung, das Unterbewusstsein und Engel.
»Was ist los, Ranva?«, fragte Gabriel. »Worüber denkst du nach?«
Ranva schüttelte den Kopf. »Irgendetwas gefällt mir an der ganzen Sache nicht.«
»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte das andere Mädchen. »Ich habe noch nie von einem Fall wie diesem gehört.«
»Nur, weil wir etwas nicht kennen, muss es nicht falsch sein, Farah«, meinte der Junge, der neben ihr saß.
Farah verdrehte die Augen. »Du weißt genau, dass ich das so nicht gemeint habe, Leander.«
Normalerweise brachten die Diskussionen zwischen den beiden Ranva zum Lächeln, denn sie benahmen sich wie ein altes Ehepaar, obwohl sie nicht zusammen waren.
Sie und Raphael dagegen waren schon lange ein Paar, schliefen Hand in Hand ein und wachten Hand in Hand auf. Ranva hatte früher nie an die einzig wahre Liebe geglaubt, doch dann hatte sie Raphael kennengelernt.
»Also, was sollen wir jetzt tun?«, fragte Ranva in die Runde.
»Ich denke, wir sehen uns Daniel erst einmal an«, antwortete Wyn. »Vielleicht überrascht er uns ja.«
Gabriel stand auf und streckte sich. »Kommt, bereiten wir alles für heute Abend vor!«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung.
Daniel setzte seine Kaffeetasse ab und sah sich in dem kleinen Café um. Er hatte nicht erwartet, dass Raphael ausgerechnet diesen Laden auswählen würde. Alles war hell und freundlich, bunte Aquarelle hingen an den Wänden, und sanfte Klaviermusik drang aus den Lautsprechern.
Raphael hatte sein Kinn in die linke Hand gestützt und starrte gedankenverloren die Wand in Daniels Rücken an.
Daniel selbst besah sich die anderen Gäste über Raphaels Schulter hinweg genauer. Zwei Mädchen schienen sehr an Raphael interessiert; sie sahen immer wieder zu ihm herüber, steckten die Köpfe zusammen und kicherten.
»Ich glaube, du hast zwei Verehrerinnen«, sagte Daniel.
Raphael blinzelte überrascht, dann warf er einen kurzen Blick über seine Schulter. »Nicht mein Fall«, sagte er.
Daniel grinste. »Dachte ich mir schon.«
»Du kennst mich eben viel zu gut«, behauptete Raphael, während er seine Tasse zwischen den Händen drehte, »aber abgesehen davon, habe ich eine Freundin.«
»Wirklich?«, fragte Daniel verwundert, woraufhin Raphael nickte. »Du wirst sie heute Abend kennenlernen.«
Jetzt war es an Daniel zu nicken.
»Hat der Kaffee gegen deine Kopfschmerzen geholfen?«, wollte Raphael wissen.
»Ja, danke«, antwortete Daniel.
Raphael sagte nichts weiter. Als Daniel ihn genauer betrachtete, sah er auf einmal sehr müde aus.
»Verschweigst du mir außer deiner Freundin noch mehr?«, fragte Daniel, eigentlich im Scherz.
»Zu viel«, flüsterte Raphael, »und das tut mir leid.«
Daniel lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah seinen Freund nachdenklich an. Insgeheim machte er sich Sorgen um ihn.
»Aber das wird sich ändern, ich verspreche es«, sagte Raphael.
»Ich bin froh, dass du noch nie ein Versprechen gebrochen hast«, erwiderte Daniel.
Raphael nickte. »Ich auch.« Er warf einen Blick auf Daniels Tasse. »Sollen wir gehen?«, fragte er.
Als Daniel zustimmte, winkte Raphael nach der Kellnerin. Nachdem sie gezahlt hatten, traten sie in die frische Frühlingsluft hinaus.
»Ist es in Ordnung, wenn ich dich später um acht abhole?«, fragte Raphael. Er wirkte unsicher, als er Daniel von der Seite ansah, als hätte er Angst vor einer Absage.
Seltsamerweise brachte das Daniel zum Schmunzeln. »In Ordnung, ich freue mich schon«, sagte er deswegen.
Raphael lächelte wieder sein schüchternes Lächeln. »Ich mich auch.«
Nachdem Daniel zu Hause angekommen war, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen. Die Kopfschmerzen waren wiedergekommen, schlimmer als zuvor. Sogar das kurze Gespräch mit seiner Mutter, dass er sich noch mit Raphael treffen wollte, hatte sich wie Glasscherben in seinem Kopf angefühlt.
Kraftlos ließ Daniel sich in seinen Sessel fallen und versuchte, sich mit dem Gedanken an Raphaels Freunde abzulenken. Er saß immer noch regungslos da, als es pünktlich um acht Uhr an der Haustür klingelte.
Daniel öffnete die Augen, verscheuchte die Bilder, die in seinem Kopf herumspukten. Er zog im Flur gerade seine Jacke an, als seine Mutter mit einem Buch in der Hand aus dem Wohnzimmer kam.
»Ist schon gut«, sagte Daniel, »das wird Raphael sein.«
Seine Mutter lächelte und strich sich ihre hellbraunen Locken zurück. »Gut, amüsiert euch. Aber kommt bitte nicht zu spät, morgen ist schließlich ein Schultag.«
Daniel winkte ihr zu, als sie wieder ins Wohnzimmer ging. Dann öffnete er die Tür und stockte. Vor ihm stand Raphael, aber er sah plötzlich völlig anders aus.
Wie immer war er ganz in schwarz gekleidet, doch dazu trug er schwere Stiefel. Um seinen Hals hing ein silbernes Kreuz an einer filigranen Kette. Dieses Kreuz schien seine ganze Ausstrahlung zu verändern, schien ihn stark und gleichzeitig verletzlich zu machen.
»Etwas paradox heute«, scherzte Daniel, um seine eigene Anspannung zu lösen.
Raphael sah ihn allerdings verständnislos an.
»Das Kreuz?«, half Daniel ihm auf die Sprünge.
Als Raphael den Anhänger kurz berührte, huschte ein liebevoller Ausdruck über sein Gesicht. »Die Kette war ein Geschenk«, antwortete er. »Sollen wir?«
Daniel nickte, und sie gingen los.
Zuerst durchquerten sie das Zentrum der Stadt. Raphael ging zielsicher durch die Straßen, während Daniel langsam die Orientierung verlor.
»Wo genau gehen wir eigentlich hin?«, fragte Daniel, als sie in eine dunkle Gasse einbogen.
»Ins alte Industriegebiet«, antwortete Raphael, als wäre diese Antwort vollkommen selbstverständlich.
Was sie tatsächlich auch war, das alte Industriegebiet war schließlich ein beliebter Treffpunkt der schwarzen Szene. Es war abgelegen, düster, und Daniel bemerkte, dass die Straßenbeleuchtung nur sporadisch funktionierte.
Sie gingen auf eine dunkle Fabrik zu, die bedrohlich in den Himmel hinaufragte. Ein eiserner Zaun umspannte das Gelände, aber das stählerne Tor stand offen. Vereinzelt waren ein paar Büsche gewachsen, und der Schein eines kleinen Lagerfeuers erhellte die Dunkelheit. Die Silhouetten von fünf Menschen, die auf Holzbänken um das Feuer saßen, waren zu erkennen.
Daniel spürte einen Anflug von Nervosität, als sich ein Schatten von der Gruppe trennte und auf ihn und Raphael zukam.
Das Mädchen hatte schwarze Haare, die ihr bis zu den Ellbogen fielen, hellgraue Augen und trug einen schwarzen Rollkragenpullover mit weiten Ärmeln. Dazu hatte sie schwarze Jeans an, die in Stiefeln mit durchgehender Plateausohle steckten.
Kaum war das Mädchen bei ihnen angekommen, zog Raphael sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss in die Haare.
»Daniel, das ist meine Freundin Ranva«, stellte Raphael sie vor.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Daniel.
»Ja, mich auch«, lächelte Ranva. Ihre grauen Augen funkelten.
Es überraschte Daniel, als sie ihn ebenfalls in die Arme schloss.
»Kommt schon«, sagte sie dann und nahm Raphaels Hand, »alle warten schon auf euch.«
Gemeinsam gingen sie auf das Feuer zu. Drei Jungen und ein weiteres Mädchen erwarteten sie. Das Mädchen stand auf, um Daniel ebenfalls kurz in die Arme zu schließen. Ihre roten Haare waren kürzer als Ranvas und außerdem leicht gewellt. Sie trug eine schwarze Korsage unter einem gleichfarbigen Strickmantel.
Читать дальше