Heimmutter Furrer schafft es erfolgreich, ihre sadistischen, dunklen Seiten gegen aussen zu verbergen. Inwieweit sie ihren Ehemann täuschen kann, ist unklar. Was Anton Furrer von diesen Exzessen genau wusste, darüber rätselt Robi Minder bis heute. Bei einer späteren Konfrontation – Robi ist längst ein gestandener Mann – lässt der pensionierte Heimvater die unbequeme Frage stoisch unbeantwortet. Damals aber, während der Jahre im Heim, erlebt Robi seinen Vati als ruhigen, streng religiösen und äusserst disziplinierten Mann, der tagsüber ausser Haus und nur beim Essen und bei den religiösen Ritualen präsent ist und ihm recht fern bleibt. Schläge von ihm gibt es nur selten. Und Rosmarie Furrer selbst ist sichtlich darauf bedacht, ihre sadistischen Auswüchse vor ihrem Mann versteckt zu halten. Wenn eines ihrer Opfer nach den Misshandlungen noch immer heult, die Augen rot verquollen, just bevor die Heimkehr des Vaters erwartet wird, drängt die Heimmutter auf sofortigen Heulstopp, heisst die Kinder, Rotz und Tränen wegzuwischen und sich unauffällig, mit gesenktem Kopf, an den Tisch zu setzen.
Für Robi gibt es, wie für die meisten der Heimkinder, niemanden, mit dem er über die schrecklichen Misshandlungen sprechen kann. Im Dorf gehört das Ehepaar Furrer zu den Angesehenen, sie geniessen Respekt. Kindergärtnerin und Lehrer sind mit Furrers befreundet, einige von ihnen gehen, wie andere Dorfhonoratioren auch, als regelmässige Gäste bei Furrers ein und aus, versammeln sich dort im evangelikalen Hauskreis zu Gebet und Gesang. Sie schauen weg, wenn Schläge auf kleinen Körpern sichtbar werden oder ihnen böse Gerüchte über schlimme Kellerrituale zu Ohren kommen. Zudem gibt es in zeitgeistiger Selbstverständlichkeit auch in der Schule Schläge. Hausarzt Dr. Bacher ist ebenfalls nicht zu trauen. Das weiss Robi nur zu gut, spätestens seit jenem Tag, als er, als eifriger Briefmarkenverkäufer für das Kinderhilfswerk Pro Juventute unterwegs, vor des Doktors Haustür steht und die Hausherrin es nicht für nötig hält, ihre Hunde zurückzurufen, sondern einfach zuschaut, wie der Bub von den Boxerhunden attackiert und gebissen wird.
Robi bleibt mit seinen Schmerzen und Qualen, mit seinen Ängsten und seiner verdeckten Wut allein. Einzig die bereits zitierten halbjährlichen Notizen der Basler Fürsorgerin dokumentieren die Auswirkungen der Traumata auf Robi und seine Entwicklung. Die Ein-Satz-Berichte und Ein-Wort-Sätze lesen sich wie eine in Sprache übersetzte Fieberkurve eines Patienten, dessen Krankheit niemand erkennt. Bis in die Anfänge der Kindergartenzeit bleibt Robi das «gefreute, lustige Kind, das nicht aus dem Rahmen falle und sich durchaus normal entwickle», das sogar «vom Kindergarten begeistert sei», auch wenn es «das Leben von der gemütlichen Seite nehme» und «nicht viele Stricke zerreisse». Auch die Einschulung schafft der Bub «besser als erwartet, ist für den Stoff interessiert, macht nett mit». Dann aber, nach dem ersten Schuljahr, beginnen die kritischen Bemerkungen: «[…] arbeitet nicht immer fleissig», «[…] ist in der Schule oft in Gedanken abwesend», «[…] hat Mühe sich zu konzentrieren», und wenig später, als Drittklässler, kassiert er dann im Halbjahresrapport die ersten gröberen Vorwürfe: «Robi ist faul, leistet in der Schule zu wenig […] man muss ihn immer wieder ermahnen, im Übrigen häufig launisch.» In den Jahren darauf wandeln sich die Beobachtungen zu abwertenden Urteilen: «[…] hat in der Schule Mühe zu folgen», nun wird er als «Pflegma» und als «wahrscheinlich nicht sehr intelligent» abqualifiziert. Zudem wird eine «Lügengeschichte» als «hoffentlich einmalige Verfehlung» dominant in der Akte vermerkt. Sie ist zusätzlich in einem eigenen Untersuchungsbericht vom 28. Mai 1960 dokumentiert und im Heimarchiv abgelegt. Der Bericht erzählt, dass der elfjährige Robi bei einem Diebstahl mit einer Schadenssumme von zehn Franken mitwirkte und anschliessend seine Kumpels nicht verraten wollte. Die Sache war aufgeflogen, weil die drei Buben im Dorf beim Eisessen beobachtet wurden und alle wussten, dass Heimkinder kein Taschengeld besassen. Der Anführer des kleinen Coups hatte überdies schon einmal einen Fünffränkler stibitzt, nun galt es dringlich, unter Federführung der Heimmutter, mit Visitation des Tatorts und Befragung der Lehrerschaft und der Schulkameraden, die Sache aufzuklären. Es gab Verhöre und Verdächtige, und nach «langem, einzelnen in sie hineindringen» und dem Einsatz von Schlägen kamen schliesslich die erhofften Geständnisse: «Robi brach zuletzt, nach langem, hartnäckigem Leugnen und als ihn der Hausvater durchprügelte, innerlich zusammen und gestand alles», steht im Untersuchungsbericht. Zwei Jahre später wagt sich Robi noch einmal an einen kleinen Schwindel: Er verlängert eine Darmgrippe mit ein bisschen Schmerzsimulation und einer Manipulation des Fieberthermometers, um sich so einen zusätzlichen Tag Krankenfürsorge zu sichern. Die Inszenierung fliegt auf, Robi brütet anschliessend über einem fünfseitigen Aufsatz zur Frage «Warum ich lüge». Der Aufsatz ist ebenfalls im Archiv abgelegt.
Die Lügengeschichte bekommt dem bis anhin so umgänglichen Robi schlecht. «Von ihm hatten wir das zuallerletzt erwartet und wir waren sehr enttäuscht», steht im Bericht des Hausvaters. Die böse Tat findet im Telefonrapport mehrmals Erwähnung, auch noch Jahre später, und schlägt sich direkt in der Bewertung von Robi als Schüler nieder. Aus dem lustigen Lausbuben wird ein schwacher Schüler, der knapp die Realschule wird besuchen können, denn die «Leistungen seien nicht sehr gut» und «Robi wenig begabt», berichten die Heimeltern nach Basel. Bemerkenswert ist, dass diese Einschätzungen keineswegs mit dem Schulzeugnis korrespondieren. In der dortigen Notenskala wird Robi nur im Kopf- und Ziffernrechnen als knapp ungenügend bewertet, in allen anderen Fächern sind seine Leistungen in Ordnung, und im Zeichnen, Singen und Turnen glänzt er sogar mit drei Ausreissern nach oben. Doch sie werden, genauso wenig wie sein sehr gutes Betragen, im Rapport der Furrers erst gar nicht erwähnt.
Zu Beginn der 1960er-Jahre entstehen im Packeis auf dem Wiesengrund mit seinen Abgründen ein paar feine Risse. Robi bricht sein Schweigen. In den Weihnachtsferien, die er bei seiner inzwischen wieder verheirateten Mutter verbringen darf, erzählt er dieser von den Misshandlungen, von den Schlägen bis zur Bewusstlosigkeit. Die Mutter alarmiert die Jugendfürsorge. Einige Monate später wird der ahnungslose Robi überraschend aus der Schule geholt, mitten am Tag. In der Heimstube sitzt Robis Fürsorgerin Frau Seliner, die er in all den Jahren, seit er hier ist, ein einziges Mal sah, Jahre zuvor, bei einem angekündigten Musterbesuch. Diesmal ist Frau Seliner unangekündigt gekommen, zusammen mit seiner Mutter, die das erste Mal im Wiesengrund ist. Die beiden sitzen neben dem Heimelternpaar Furrer in ihrem Büro, Vater Anton ist eigens von der Arbeit nach Hause geholt worden, Mutter Rosmarie sitzt blass und mit zuckendem Kinn daneben. Robi soll sich dazusetzen, soll erzählen, was war. Gelähmt vor Angst, was ihn danach erwartet, schafft er es dennoch, von der Misshandlung zu berichten. Was anschliessend gesprochen wird, überhaupt, was geschieht, weiss Robi Minder heute nicht mehr, er erinnert sich einzig an die unerwartete Blässe im Gesicht der Heimmutter, an ihre zitternden Lippen und an eine grosse Angst in ihren Augen. Viel später erzählte ihm jemand, die Basler Jugendfürsorge habe die Platzierung von Kindern in den Wiesengrund danach eingestellt. Überprüfen konnte er die Aussage nicht. Und der Vorfall selbst ist, anders als etwa Robis Lügengeschichte, im sonst akribisch geführten Heimarchiv nirgends dokumentiert. Das Leben im Wiesengrund geht weiter wie zuvor. Das Packeis friert wieder zu. Und die Minder-Kinder haben zu bleiben.
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