Über dieses Buch
Im Jahr 1952 erkrankte der Bruder von Margrith Lin an einer tuberkulösen Meningitis, er war zweieinhalb Jahre alt. Bereits totgesagt, überlebte er seine schwere Krankheit, und nach zwei Jahren Spital- und Kuraufenthalt kehrte der Bruder wieder nach Hause zurück: «körperlich geheilt dank neuzeitlichen Heilmitteln», wie es im Austrittsbericht des Arztes hiess. Über seine geistigen und seelischen Schädigungen wurden die Eltern nicht informiert.
Margrith Lin erzählt die Lebensgeschichte ihres Bruders und gleichzeitig ihre eigene Geschichte als Schwester dieses Bruders. Sie erzählt von der Kindheit in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, vom Familienalltag, von Prägungen auch für den eigenen Werdegang, von der Verantwortung, die den Angehörigen ein Leben lang bleibt. Margrith Lin erzählt aber auch von den Erfahrungen mit Behörden und Institutionen und damit vom Wandel in der Einstellung gegenüber Menschen mit einer Behinderung während der letzten siebzig Jahre.
«Ein Bruder lebenslänglich» ist ein zärtlicher Erfahrungsbericht und ein wichtiges sozialgeschichtliches Dokument zugleich.
«Das Buch stellt für professionell Tätige und sozialhistorisch Interessierte eine wichtige Dokumentation dar.» Dr. Hedwig Stauffer-Stiftung
Foto Luzius Wespe, Voltafilm
Prof. em. Dr. Margrith Lin, geboren 1947, Primarlehrerin, Heilpädagogin / Logopädin und Psychologin, verschiedene Weiterbildungen in Individual- sowie Systemtherapie. Lehrtätigkeit in Ausbildungsstätten für soziale, pädagogische und therapeutische Berufe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heilpädagogischen Institut (HPI) der Universität Fribourg und Professorin im Fachbereich «Heterogenität und Heilpädagogik» an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz (PHZ). Aus ihrer langjährigen Beratungstätigkeit in einem Heilpädagogischen Dienst entstanden verschiedene Publikationen zur Beratung von Familien aus unterschiedlichen Lebenswelten und zur sprachlichen Sozialisation.
Margrith Lin
Ein Bruder lebenslänglich
Vom Leben mit einem behinderten Geschwister
Limmat Verlag
Zürich
Diesem Buch geht es nicht um persönliche Anklagen, sondern um Anregungen zur kritischen Reflexion im Umgang mit Menschen mit einer Behinderung und deren Angehörigen. Deshalb sind alle Personen, Orte und Institutionen anonymisiert. Diesbezügliche Dokumente und persönliche Zitate sind entsprechend formal verändert.
Die zitierten Gutachten, Berichte, Zeitungsausschnitte, Broschüren, Briefe und E-Mails stammen aus dem Dossier, welches die Eltern von ihrem Sohn angelegt hatten und das später von der ältesten Schwester in ihrer Funktion als Beiständin weitergeführt worden ist.
Auf steiler Strasse traf ich jüngst ein Mädchen,
das seinen kleinen Bruder auf dem Rücken trug.
«O weh», sagte ich, «du armes Kind,
da trägst du aber eine schwere Last!»
Darauf sah mich das Mädchen
verwundert an und sprach: «Ich trage
keine Last, ich trage meinen Bruder.»
Unbekannter Autor
«Ich habe das nicht gesucht, nehme bloss
meine Verantwortung als Schwester
wahr, und ich will es nochmals sagen:
Ich trug zuweilen schwer daran.»
Erica Brühlmann-Jecklin,
Brief an meinen Bruder Walter
Prolog
Diesmal ist es anders
Die Barockkirche ist nicht von feierlicher Orgelmusik erfüllt, sondern vorne im Chor bringen zwei volkstümlich gekleidete Akkordeonisten Leben in die heiligen Hallen. Auffällig die knallrot lackierten Fingernägel der klein gewachsenen Frau, welche sich von den lüpfigen Klängen mitreissen lässt. Sie zwängt sich durch die Bankreihen und schreitet im Rhythmus der Musik das Kirchenschiff ab, pausenlos auf und ab. Nebenan wirft eine Greisin ihre Puppe zum hundertsten Mal zu Boden. Diese wird von hilfreichen Händen immer wieder aufgehoben und ihr in den Schoss gelegt. Ein endloses Spiel.
Ein behelmter Junge richtet sich kreischend in seinem Rollstuhl auf und klatscht lautstark in die Hände. Ein Ausdruck ungezähmter Freude? Gilt das wohl auch für den Mann, der fortwährend seinen Pullover hochzieht, seinen nackten Bauch zur Schau stellt und dazu grunzende Laute von sich gibt? Eine Gestalt mit einem riesigen Kropf, fast so gross wie ihr Kopf, hastet am Altar vorbei.
Diese hier versammelten Geschöpfe beelenden mich, schnüren mir das Herz zusammen. Ich bin als Angehörige eingeladen. Neben mir ist mein Bruder, auch er rastlos, im Sekundentakt wiederholt er die gleichen Fragen. Er ist neu und kennt dieses Fest noch nicht.
Tränen schiessen mir in die Augen. Doch die fröhliche Stimmung rundherum nimmt mich mit und lullt mich ein, ein calderonisches Welttheater, alle hier Versammelten spielen ihre Lebensrolle, und ich bin mittendrin in diesem grossen Spektakel. Dazu passt die barocke Kulisse der Klosterkirche vortrefflich. Wir sind alle in diesem Spiel gefangen, spielen die uns vom Schöpfer und Meister zugeteilten Rollen so, wie es unsere Lebensumstände bedingen.
«Ich selbst verteile die Rollen
Nach eines jeglichen Natur und Richtung. (…)
Und nun ans Werk! Derweilen ich dirigiere,
Sei du die Bühne und der Mensch agiere.»
Pedro Calderon, Das grosse Welttheater
«Ich habe das nicht gesucht, nehme nur meine Verantwortung als Schwester wahr …»
Auch ich könnte mit diesen Worten meine Geschichte als Schwester eines behinderten Bruders beginnen.
Frühe Kindheit 1950–1959
Meine frühesten Erinnerungen
Die Pilgerreise nach Rom
Ein Sonnenstrahl fällt durch das vergitterte Fenster. Moosgrüne Wände, ein säuerlich muffiger Geruch, das Ablaufrohr entlang krabbelt eine dünnbeinige Spinne. Ängstlich kauere ich auf dem feuchtklebrigen Linoleumboden. Ich habe aufgehört zu weinen. Es ist plötzlich ganz still, nur die Wasserspülung plätschert leise. Da dreht sich der Schlüssel, und Tante Gret steckt ihren Kopf durch den Türspalt: «Willst du nun brav sein?» Sie öffnet die Toilettentür und schickt mich nach oben, meine inzwischen kalt gewordene Milch auszutrinken.
Ich klammere mich an das Treppengeländer und klettere leise schluchzend die knarrenden Stufen hoch. Oben erwartet mich Maria. Die abgestandene Milch hat eine dünne Haut gebildet, die eklig am Tassenrand klebt. Maria wäscht mir das tränenverschmierte Gesicht, putzt mir die Milchpelle von den Mundwinkeln, kämmt mir die zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Und kämmt sie mir das Haar, so rupft sie mir ein paar – aber du lieb Mütterlein du, bandest noch bunte Schleifen dazu …»
Ich mag Marias Lied, seinen Inhalt begreife ich erst später. Es ist das Lied eines kleinen Mädchens, welches am Grab seiner Mutter über seine Stiefmutter klagt.
Ich schlucke meine Tränen runter, damit ich nicht wieder zu weinen beginne. Mama und Papa sind weg. Mich haben sie hiergelassen. Meine beiden älteren Schwestern sind auch nicht da. Sie sind in die Schule verschwunden.
Ich sehe diese Bilder deutlich vor mir, spüre die Wut im Bauch aufsteigen und ein dumpfes Gefühl von Hilflosigkeit und Traurigkeit beschleicht mich noch immer. Ob ich mich wirklich noch erinnern kann? Ich war damals zwei Jahre alt. Glaube ich nur, mich daran zu erinnern, da man mir das später so erzählt hat? Autobiografische Erinnerungen setzen erst ab dem dritten Lebensjahr oder noch später ein, sagt die Forschung.
Es ist Sonntagnachmittag. Ich schiebe Tante Gret im Rollstuhl durch den Park des Pflegeheims. Sie ist inzwischen hundertzwei Jahre alt.
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