Claverie stellt die an Christus Glaubenden in die Mitte zweier Größen: zwischen Gott und die Welt, zwischen Reich Gottes und Geschichte. Es gibt nur einen einzigen Mittler – Jesus Christus. Er ist die Versöhnung zwischen Gott und der Menschheit. Die Christenheit ist dazu da, diese Mittlerschaft zu verkünden. Das kann nicht anders als spannungsreich sein und wird eine Berührung mit dem Kreuz nach sich ziehen. In einer Weihehomilie aus dem Jahr 1990 führt Claverie aus: „In der Nachfolge Jesu sind wir gesandt, Diener der guten Nachricht der Versöhnung zwischen Gott und der ganzen Menschheit zu sein. Dieser Dienst macht uns nicht zu Mittlern zwischen Gott und den Menschen, sondern zu Vermittlern, ganz auf Gott bezogen und ganz auf die Welt, mit Jesus dorthin gestellt, wo Geschichte und Reich Gottes sich verbinden. Dieser Ort ist nun das Kreuz.“ (350)
Für eine „schwache Kirche“
Christen in Algerien fanden sich über Jahrhunderte hin als Minderheit vor. Claverie reflektiert daher häufig über die Frage nach Sinn und Stil christlicher Präsenz in einem muslimischen Land. Sind die Christen nur Gäste im „Haus des Islam“, erwünscht oder an den Rand gedrängt und bestenfalls als historisches Relikt geduldet („Will man uns nicht mehr?“, 307)? Die konkret-alltäglichen Umstände und die Lebensatmosphäre entwickelten sich jedenfalls derart, dass jegliche Überheblichkeit, so es sie noch gab, unhaltbar wurde. Es ist eine Kirche, die sich machtlos und verwundbar vorfindet und die „Erfahrung der Mittellosigkeit“ (372) macht. Sie nimmt Abstand davon, sich permanent selbst zu verteidigen: „Wir haben kein Interesse zu retten oder Einfluss zu bewahren.“ (389) Anlässlich der Installation auf dem Bischofsstuhl in Oran am 9. Oktober 1981 bezieht Claverie mit seinem Ja zu einer „schwachen Kirche“ Position: „Unsere Chance in Algerien ist, dass wir unserer Reichtümer beraubt sind, unsere Forderungen und unsere Überheblichkeit aufgegeben haben (…) Danken wir Gott, wenn er seine Kirche zur schlichten Menschlichkeit führt.“ (161) Die Gefahren einer derartigen Sichtweise stehen ihm vor Augen: sich in der Abwehrhaltung verschanzen oder der gänzliche Rückzug auf sich selbst. Wie die Lebendigkeit erhalten? Er weiß: Das bedarf der steten Bemühung und auch des inneren Kampfes. Alles, konkret: die „Größe und Stärke der Christen“, hängt „von der Qualität ihrer Beziehungen zu Gott und zu den anderen ab“ (267). Das je Vorfindbare und quantitativ Evaluierbare ist nicht unwichtig, hier darf man sich keinen Illusionen hingeben. Aber im Verhältnis zur personalen Dimension des Glaubens, zur Beziehungsebene ist die Anzahl der Glaubenden unwichtig. Entscheidend sind die Lebendigkeit der Gottesliebe und die Praxis der Nächstenliebe. Darum wird Claverie nicht müde, immer neu das biblische Gebot des „Betet ohne Unterlass!“ in Erinnerung zu rufen – auch als Mittel gegen die Versuchung, sich in die Defensive zurückzuziehen.
„Gott hat sich auf’s Spiel gesetzt“
In den 1990er Jahren schraubt sich die Spirale der Gewalt in Algerien unaufhaltsam höher. Nach den ersten Morden an Ordensleuten muss auch Claverie damit rechnen, zur Zielscheibe zu werden. Er lebt mit dieser Ahnung und vermag es, der faktischen Passivität einen aktiv-willentlichen Stempel aufzuprägen: „Mein Leben, niemand nimmt es, aber ich bin es, der es gibt. Jesus ermöglicht es, uns den erlittenen Tod umzuformen in ein aktives Geben von uns selbst, in dem das Leben sich erneuert und sich intensiviert.“ (328) Es könnte gut sein, dass er darin von Christian de Chergé, dem Prior von Tibhirine, inspiriert war. In dessen Testament spielt das an Joh 10,18 angelehnte Motiv „hingegeben, nicht genommen“ eine zentrale Rolle. Jedenfalls möchte sich Claverie diesen Momenten „der Krise, der Erprobung, der Erschütterung“ stellen. Sie sind „vielleicht eine einzigartige Chance, sich von Gott berühren zu lassen und mit Jesus und durch Jesus das Kostbare des Lebens zu finden und als eine innere Notwendigkeit intensiver zu lieben“ (211). Was Claverie „den erlittenen Tod umzuformen in ein aktives Geben von uns selbst“ (328) nennt, könnte, flüchtig betrachtet, den Anschein erwecken, als ginge es um einen heroischen Akt der Selbsterhöhung, zu dem manche fähig sind (und andere nicht …). Claverie hingegen berichtet von Erschütterungen „in gewissen Überzeugungen“, die er „nach Jahren der Erprobung und der schwierigen inneren und kollektiven Bekehrungen erworben“ hatte (307). Einer derartigen Option gehen unzählige, weil alltägliche Stationen innerer Arbeit, der Reflexion und des Gebetes voraus. Das Wagnis des Übergangs schließlich, sich aufs Spiel zu setzen, vollbringt „alleine die Stärke des göttlichen Geistes selbst“ in uns. Nichts anderes hat Gott gemacht. Er hat „sich ‚aufs Spiel gesetzt‘ in der Geschichte der Menschen bis hin zum Teilen ihrer Bedingungen (…) Was gibt es Verrückteres, als in den Tod zu gehen ohne anderes Gepäck als die gewaltfreie Liebe, die im Vergeben stirbt? (…) Es ist alleine die Stärke des göttlichen Geistes selbst, der uns beibringen kann, diesen Übergang zu wagen.“ (308)
Christentum heute
Was kann uns Pierre Claverie 20 Jahre nach seinem Tod sagen? Im Nahen und Mittleren Osten herrscht erneut Krieg, dessen Folgen verheerend sind, auch für die orientalische Christenheit. Noch ist nicht ausgemacht, ob es in den betroffenen Ländern für Christen überhaupt eine Zukunft gibt. Charismatische Vermittlergestalten wie etwa der Jesuitenpater Paolo d’Oglio, der in der syrischen Wüste das Mar-Musa-Kloster wiederbelebte und sich mit allen Kräften dem christlich-islamischen Dialog widmete, sind extremistischen Kräften ein Dorn im Auge und wurden entführt oder gar ermordet.
In Zentraleuropa – und noch enger fokussiert im deutschsprachigen Raum – stehen Christenheit und Kirche hingegen in einer gänzlich anderen Situation als in Algerien. Was etwa Geschichte und Tradition des kirchlich-konfessionellen Christentums, den öffentlichen Stellenwert von Religion oder das Verhältnis von Staat und Kirche betrifft, liegen die Unterschiede auf der Hand. Und doch gibt es Analogien: Bekennende Christen finden sich in unserer Gesellschaft zusehends in der Situation einer Minderheit vor, was sie auf die Suche nach der eigenen Identität und Sendung setzt. Zugleich sind die allermeisten der in jüngster Vergangenheit vor dem Krieg in Syrien, Irak und Afghanistan nach Europa Geflüchteten Muslime. Diese Migrationswelle wird statistisch-soziologisch betrachtet zu einer Zunahme muslimischer Bevölkerungsanteile führen und damit der faktischen Abnahme des Christentums hierzulande einen weiteren Aspekt hinzufügen: Minderheit im Angesicht einer anderen Religion zu sein. Hier herein gehört die heilsame Frage: Wozu ist die Christenheit gut, wenn herkömmliches Christentum erodiert und sich eine neue Gestalt von Christentum, Kirche und gemeindlichem Leben erst nach und nach herauskristallisiert? Pierre Claverie würde ermutigen, diese Situation als „Übergang“ (Pascha) aufzufassen, die „kollektive Bekehrungen“ (307) fordert – individuelle sowieso. Er würde wohl auch anregen, diese (so wie jede!) historische Situation als Chance zu begreifen, sich von Gott berühren zu lassen, den Verlust an Einfluss und die Zunahme an Machtlosigkeit zu bejahen und der schlichten, aber „mit Feingefühl“ (166) gelebten Präsenz in verschiedenen Milieus eine spezifische Wirksamkeit im Sinne des Reiches Gottes zuzutrauen. Nicht alles lässt sich evaluieren – Gott sei Dank!
1 |
I. Baumer, Die Mönche von Tibhirine. Die algerischen Glaubenszeugen – Hintergründe und Hoffnungen. München 2010, 53-64; C. Benke, „Hingegeben, nicht genommen“. Zeugen für Christus im muslimischen Algerien, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt. Freiburg i. Br. 2015, 252–267. |
2 |
J.-J. Pérennès, Pierre Claverie – Dominikaner und Bischof in Algerien (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 17). Leipzig 2014 (siehe Zahlen in Klammern); Originalausgabe: ders., Pierre Claverie. Un Algérien par alliance. Paris 2000. Siehe auch P. Claverie, Lettres et messages d’Algérie (Chrétiens en liberté), Paris 1996. |
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