Der Bernerhof ist kein eigentliches Verwaltungsgebäude, nicht so wie das benachbarte Bundeshaus West oder das Bundeshaus Ost, auf Nützlichkeit getrimmte Bollwerke der Administration mit dem Charme von Schulhäusern. Nein, der Bernerhof ist erstens schön gelegen, am westlichen Ende der Bundeshausterrasse, stammt zweitens aus den 1850er-Jahren und beeindruckt drittens auch heute noch die Besucher mit seinem Prunk, der so gar nicht zur Bescheidenheit eines Finanzministeriums passen will. Doch das Gebäude mit seinem eindrucksvollen Treppenhaus, dem imposanten Leuchtersaal, den eleganten Salons war ja eigentlich auch gar nicht als Sitz für Sparfüchse gedacht. Der Berner Hotelier Jean Kraft hatte das Gebäude vor 150 Jahren als Grand Hotel konzipiert, als Unterkunft für die Mächtigsten und Reichsten dieser Welt. Napoleon der Dritte war da, die Kaiserin von Russland, Könige und Maharadschas, Geldadel wie die Rothschilds genauso wie Kulturgrössen à la Jacques Offenbach. Doch nach dem Ersten Weltkrieg geht es den noblen Damen und Herren – ob Erb- oder Geldadel ist dabei einerlei – nicht mehr so gut, sie können sich das Edelhotel in Bern nicht mehr leisten. Dann verstirbt auch noch der Hotelier, und so verkauft seine Witwe es in der Not 1923 an die Eidgenossenschaft. In diesem einstigen Nobelhotel quartiert der Bundesrat ab 1924 – Ironie des Schicksals – seinen Säckelmeister ein.
Doch die zwei Besucher aus Zürich haben an diesem 17. September 2001 keinen Blick für die Schönheit und Eleganz des Baus. Im Gegenteil: Wie arme Schlucker gehen der Swissair-Chef und seine Finanzchefin die Treppe zum Büro von Bundesrat Kaspar Villiger hoch. Mario Corti und Jacqualyn Fouse brauchen Geld. Viel Geld. Eine Milliarde ungefähr – sofort. Und ja, dann brauche es eine Rekapitalisierung von ungefähr vier Milliarden Franken. Bundesrat Kaspar Villiger wird sich später nur erinnern, dass Cortis Vorstellungen zur Swissair-Sanierung «vage» gewesen seien. Mario Corti präsentiert jedenfalls kein schlüssiges Sanierungskonzept für den eigentlichen Betrieb der Airline. Der freisinnige Bundesrat ist ratlos. Corti entschuldigt sich, dies habe alles mit den Terroranschlägen von vor einer Woche zu tun. Vorher habe es noch einen schmalen Weg zur Sanierung aus eigener Kraft gegeben. Aber jetzt sei eine Rettung ohne Finanzhilfe des Staats nicht mehr möglich. Ansonsten sei die Swissair Anfang Oktober zahlungsunfähig, sprich bankrott. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 vernichten nicht nur fast 3000 Menschenleben an der Ostküste der USA. Sie verursachen Angst. Die Menschen fürchten sich vor weiteren Terrorakten. Sie vermeiden es, Risiken einzugehen, und bleiben lieber am Boden, als dass sie in ein Flugzeug steigen. Die Anschläge stürzen deshalb die Luftfahrtindustrie in ihre grösste Krise. Und sie zerstören – ein Kollateralschaden mit grosser Wirkung für die Swissair – damit den Wert auch aller flugnahen Nebenbetriebe. Der Notgroschen, gedacht als letzte Lösung, falls gar nichts mehr geht, hat plötzlich keinen Verkaufswert mehr. Swissair-Chef Mario Corti sieht deshalb nur noch einen Ausweg: den Bittgang in den Bernerhof.
Doch so einfach, wie sich Corti dies möglicherweise gedacht hat, wird die Rettung der Swissair nicht. Der Finanzminister ist entgeistert und konsterniert. Kaspar Villiger erinnert sich heute so an jenen Tag im schwarzen September 2001: «Die Vorstellungen von Corti zur Rettung nach 9/11 lagen derart weit von jeder, auch finanziellen, Realität, dass ich mir eigentlich noch heute kein anderes Handeln als das Herantasten an eine mögliche Lösung zusammen mit den anderen betroffenen Stakeholdern vorstellen konnte.» Anders gesagt: Der Bundesrat ahnt, dass eine Rettung viel Geld kosten wird, sehr viel Geld. Und dass Corti als Krisenmanager heillos überfordert ist. Der FDP-Politiker wird seine Zweifel nicht öffentlich ausbreiten. Aber ihm ist klar, dass für diesen Job andere Qualitäten gefragt sind als diejenigen eines vorwiegend auf Akten und Konzernrechnungen fokussierten Mannes. Villiger ahnt zudem auch, was die Ursachen dieser Misere sind: «Meiner Meinung nach hätte die Swissair vor 9/11 durch eine mutige Restrukturierung, durch den Verkauf rentabler Tochtergesellschaften, ihre Probleme aus eigener Kraft noch lösen können. Aber durch den Terroranschlag wurden diese Tochtergesellschaften über Nacht derart entwertet, dass sich das Problem massiv verschärfte.»
Corti und Fouse verlassen die Besprechung, ohne einen Beschluss erreicht zu haben. Villiger ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie viel Geld Corti und dessen Swissair wirklich benötigen. Der Bundesrat berät sich mit dem Chef der Finanzverwaltung, Peter Siegenthaler, und diskutiert mit seinem Chefbeamten, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Schnell kommt die Idee auf, die in solchen Fällen damals oft als Erste eingebracht wird: «Runder Tisch»! Alle Beteiligten an einen Tisch zu setzen, scheint sinnvoll. Denn die Lösung sollte nicht primär vom Staat kommen. Villiger ist ein Liberaler: Eigentlich, so seine Überzeugung, ist die Wirtschaft für ihre Probleme primär selbst verantwortlich. Erst dann sollte der Staat zum Zug kommen, wenn möglich aber nur subsidiär, also nachrangig. Das Treffen Villigers und Cortis vom Montag, 17. September, das ohne Beschluss endet, sei der Schlüsselmoment des Scheiterns gewesen, analysiert rückblickend René Lüchinger: «Bundesrat Kaspar Villiger hat damals die Situation unterschätzt. Er hat unterschätzt, wie dramatisch die Situation der Swissair war. Er hat auch die Gefahr, dass es ein Grounding geben könnte, einfach nicht gesehen.» Peter Kurer, damals Chefjurist der UBS, sieht das Problem in der mangelnden Zusammenarbeit innerhalb der Regierung: «Villiger hat im Nachgang zu diesem Treffen den Rest-Bundesrat nicht sofort informiert.» Das geschieht tatsächlich erst vier Tage später, am 21. September 2001. Aber, so argumentiert Villiger, die Regierung sei mit den eingereichten Unterlagen für die Mitberichte schon Tage zuvor über die schlechte Lage der Airline ins Bild gesetzt worden. Und: «Der Bundesrat hat keine eigentlichen Machtmittel, die ihm erlauben, eine Krise in der Privatwirtschaft zu managen.» Er könne Gespräche führen, Überzeugungsarbeit leisten, er könne versuchen, zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu moderieren, «das alles ist nicht wenig!» Kurer bleibt bei seiner Meinung: «Der Bundesrat hätte – nachdem Corti zu ihm kam – hinter die Swissair stehen und der Airline eine Staatsgarantie geben sollen, das hätte gereicht.» Jedenfalls ist für Kurer «nach dieser Erfahrung» klar: Wenn man mit dem politischen System spricht, muss man immer mehr als einen Bundesrat im Boot haben: «Das ist aus meiner Sicht die Haupterkenntnis.»
Natürlich wäre eine Rolle als Retter verlockend. Aber Selbstdarstellung ist nicht Villigers primäres Merkmal. Er, genauso wie sein wichtigster Mann in der Verwaltung, Peter Siegenthaler, ist ein eher zurückhaltender Mensch. Sie hätten gerne Zeit und Fakten vorliegen, um das Problem strukturiert angehen zu können; sie sind überzeugt, dass sich der Staat zurückhalten soll bei Eingriffen in die Wirtschaft. Wo Corti Gas geben will, steht Villiger also auf die Bremse. Er lässt Siegenthaler zuerst einmal ein Aussprachepapier für die nächste Bundesratssitzung in vier Tagen ausarbeiten. Auch die NZZ, Leuchtturm für freisinnige Politikerinnen und Politiker, macht klar, dass nicht in erster Linie der Staat zu handeln habe, sondern dass «eine rein privatwirtschaftliche Sanierung ohne Zweifel die zu bevorzugende Lösung» wäre, so der wirkungsmächtige Wirtschaftschef von damals, Gerhard Schwarz. Er warnt am 20. September die Politiker vor «ordnungspolitischen Fehltritten». Gleichzeitig spürt die Volkszeitung Blick bei diesem Volk eine ganz andere Haltung: Vier von fünf Blick-Lesern würden sich eine nachhaltige Rettungsaktion für die Airline wünschen. «Rettet die Swissair!» titelt das Blatt. Bei der Gesellschaft selbst dringt die Dringlichkeit nicht wirklich durch: Der Verwaltungsrat werde im Oktober über ein weiteres Sanierungspaket entscheiden, teilt man einsilbig mit.
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